Der Mensch ist auf Beziehung «angelegt», es ist sozusagen sein existentielles Grundbedürfnis. Nicht so bei autistischen Personen. Es fällt schwer, sich in deren Welt einzufühlen. Im Gespräch geben Marianne und Beat Burkhardt Einblicke in ihr Familienleben. Ihr Sohn Kay ist autistisch.
Daniela Wagner
2. August 2017

Wie würdet ihr Kay beschreiben?
Marianne und Beat Burkhardt: Kay ist unser drittes Kind und heute knapp 12 Jahre alt. Er ist ein in sich gekehrter Junge, der wenig spricht. In Menschenmengen fühlt er sich unwohl. Er verzieht sich gern in sein Zimmer und macht die Tür zu, egal, ob wir unter uns sind oder Besuch haben. Auch der Garten ist ein beliebter Rückzugsort. Dort läuft er hin und her oder im Kreis herum.

Viele Autisten reagieren bei Überforderung aggressiv ...
Marianne: Kay zeigt kein solches Verhalten, auch früher nicht als Kleinkind. Er fängt höchstens an zu weinen oder ist einfach «von der Rolle» und für einige Stunden eingeschnappt. Dies geschieht aber glücklicherweise sehr selten.

Seit Jahren hat er einen grossen Gymnastikball und macht darauf Akrobatik. Das sieht recht speziell aus. Wenn Leute zu Besuch kommen, schauen sie hin und erschrecken zuerst mal. Für uns ist sein akrobatisches
Talent normal, gehört zu ihm. Er hat ein überdurchschnittlich gutes Gleichgewichtsgefühl, keiner von uns kann sich so auf dem Ball halten wie er.

Beat: Im Gegenteil: Unser Sohn ist ein leichtes Ziel für Mobbing, wehrt sich wenig und frisst Wut und Angst in sich hinein. Er kann jahrelang nachtragend sein. Dies äussert sich in Blockaden und dem Meiden von Personen oder Sachen. Es gibt verschiedene Grade von Autismus. Kay hat mit Bestimmtheit nicht eine der schwersten Formen.

Kay ist euer drittes Kind. Wann habt ihr gemerkt, dass bei ihm etwas «nicht normal» ist?
Marianne: Im ersten Lebensjahr fiel uns nichts auf. Kays motorische Entwicklung war ganz normal. Doch mit zwei Jahren sprach er noch immer kein Wort und konnte auch nicht spielen. Er nahm beispielsweise «eine Ladung Autos» in die Hände, setzte sich aufs Sofa und presste sie einfach nur fest an sich. Nichts drang mehr zu ihm durch, er verharrte einfach in dieser Position. Man konnte ihn ansprechen, doch er reagierte nicht – sass einfach nur da. Seine Mimik war immer gleich. Bis heute zeigt er sehr wenig Interesse am Spielen. Spielsachen hat er vor allem herumgetragen. Seinen Geschwistern las ich in diesem Alter viele Bilderbücher vor, und sie hörten gespannt zu. Kay schaute weder die Bilder richtig an, noch interessierte ihn die Handlung. Schnell blätterte er das Bilderbuch durch. Auch sein Essverhalten unterschied sich deutlich von dem seiner Geschwister. Er ass oft dasselbe, vieles verschmähte er. Waren Orangen hoch im Kurs, so verdrückte er mehrere davon an einem Tag. Dieses Verhalten befremdete uns natürlich.

Beat: In der Zeit, als Kay ein Baby war, waren wir als Familie äusserst ausgelastet, z. T. über unsere Belastungsgrenze. Als Missionare hatten wir uns entschieden, einen nicht regulären Lebensweg zu gehen, bei welchem Vergleichsmöglichkeiten fehlten. Uns ist lange nichts aufgefallen, zudem schrieben wir Kays «Nichtsprechen» den Sprach- und Kulturwechseln zu, welchen wir alle ausgesetzt waren.

Hat Kay im Kleinkindalter Nähe zugelassen und Blickkontakt hergestellt?
Marianne: Das wissen wir nicht mehr so genau. Als Baby haben wir ihn rumgetragen wie die anderen auch. Als Kay drei Monate alt war, reisten wir aus nach Amerika. Beat war Missionspilot und dort fand unsere Vorbereitungszeit statt, bevor wir als Familie zuerst in Kenia und dann neun Jahre in Madagaskar lebten. Wir waren viel unterwegs. Kay ist einfach so dabei gewesen, er war ein pflegeleichtes Baby. Problemlos konnten wir ihn überall hin mitnehmen. Er war einfach zufrieden. Erst später fiel uns auf, dass er kaum Blickkontakt mit uns aufnahm. Er ging ausserdem oft auf Zehenspitzen. Und wenn ein bestimmter, ihm vertrauter Ablauf nicht eingehalten wurde, fing er an zu weinen.

Beat: Wenn ich heute die Fotos aus der Zeit anschaue, muss ich sagen: Doch, man sieht, dass mit Kay etwas nicht stimmt.

(Artikelauszug aus ethos 8/2017)