Hamburg 1944–45
Erino Dapozzo
22. Juni 2023

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Ervino Dapozzo als Handwerker und Missionar in der Pariser Gegend tätig. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse wurde er von der deutschen Kommandantur als Übersetzer von Denunziationsbriefen verpflichtet. Seinem Gewissen folgend, wurde er ein Werkzeug in Gottes Hand zur Rettung vieler, gerade auch der Juden, die er heimlich vor dem drohenden Unheil warnte – bis er selbst verraten wurde. Erschütternd ist sein Bericht über das Lagerleben – ermutigend und glaubensstärkend aber auch seine Erfahrungen mit Gott, dem er bedingungslos vertraute.

Hamburg, 3. April 1944

Seit heute morgen bin ich zum zweiten Mal deportiert in einem Lager in Deutschland, mitten unter meinen Kameraden. Ausgestreckt auf dem Strohlager, das wir nur den «Schnarcher» nennen, überfallen mich düstere Gedanken, denn schwarz liegt die Zukunft vor mir, zum Verzweifeln.

Frau und Kinder tauchen in meiner Erinnerung auf, gerade so blass, wie sie mir bei meiner Zwangsabreise im Pariser Ostbahnhof erschienen. Meine Frau, weinend, versucht trotzdem zu lächeln, um mir Mut zu machen. Werde ich meine Lieben wohl wiedersehen?

Dann folgt eine trübselige Reise. In Güterwagen zusammengepfercht, leiden wir unsäglich während der dreitägigen Fahrt; unausstehlich ist das Schütteln infolge schlecht verbundener Schienen und nicht geölter Achsen. In der Nacht gibt’s keinen Schlaf, weil wir frieren, und zwar aus eigener Schuld: Die Kameraden haben in ihren Verzweiflungsausbrüchen manche Fensterscheibe zerschlagen. Unsere mit Maschinenpistolen bewaffneten Wächter haben dafür nur ein Lächeln übrig.

Gegen Mitternacht geht’s über die deutsche Grenze. Jeder empfindet die ganze Schwere dieses Augenblicks. Mein Nachbar bemerkt in seinem Pariser Französisch: «Jetzt sind wir drin und werden nicht so bald herauskommen.» Ein Jugendlicher, kaum siebzehnjährig, weint leise und meint: «Wie ich mich fürchte vor diesem Deutschland!»

Nach flüchtiger militärischer Durchsuchung rattert unser Zug weiter durch dieses uns so viel Furcht einflössende Reich. Schliesslich endet unsere Reise in Hamburg, und hier beginnt meine Erzählung.

Rückblick

An diesem ersten Abend fliegen meine Gedanken zurück in meine erste Verbannungszeit. Ich sehe mich vor dem deutschen Militärgericht in der Avenue Foch in Paris, wohin mich irgendeine anonyme Anschuldigung gebracht hat.

Das summarische Urteil der meisten Geschworenen lautete auf Tod durch Erschiessen. Ich verdankte mein Leben der Einsprache des Präsidenten, eines Obersten, der aus Rücksicht auf meine vier Kinder darauf bestand, mich nach Deutschland zu deportieren. So erfüllte sich an mir das Psalmwort: «Wenn ich mitten in der Angst wandle, so erquickst du mich, und streckst deine Hand wider den Zorn meiner Feinde, und hilfst mir mit deiner Rechten» (Ps. 138,7).

Dieser erste Zwangsaufenthalt in Deutschland samt seinen Folgen wird mir wieder lebhaft gegenwärtig. Ich sehe mich in den Minen von Saarbrücken-Völklingen unterirdische Zwangsarbeit tun, oft müde zum Umsinken; Schläge; streitende, mitleidslose Lagerführer; der sogenannte Lagerarzt mit seinem brutalen Gesicht, der uns mit Fusstritten behandelt, zum gros-sen Vergnügen seines Gehilfen ...

Die Zukunft liegt vor mir wie ein grosses Fragezeichen. Werde ich eines Tages aus dieser verzweiflungsvollen Sackgasse herauskommen? Plötzlich leuchtet vor mir wie ein schimmerndes Hoffnungszeichen das Wort aus Römer 8 auf: «Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.»

Meine Zukunft? Sie ist gesichert, «denn du», so bete ich, «bist es, der mich führt, Schritt für Schritt. Im Leben und im Tod bleibst du mein Los und mein Teil immerdar!»

Ich frage mich oft, wie meine Lagerkameraden ihr Schicksal tragen, sehe aber bald, dass sie mürbe werden. Ihnen fehlt eben der einzige Halt, der in allen Stürmen standhält. Ich erkenne, dass eine Religion ein zerbrechliches Gebäude ist, nämlich die Religion ohne einen gekreuzigten und auferstandenen Christus. Wenn ein Mensch nicht zur Wiedergeburt gelangt ist, kann ihm seine Religion in grossen Nöten keine Stütze sein.

Das ist meine Erfahrung unter den Lagerkameraden, Katholiken wie Protestanten, und in der Mehrzahl Atheisten. Es gibt bei uns Menschen verschiedenster Herkunft: Bankbeamte genauso wie geistig Behinderte, Zuhälter und Banditen der Hafenquartiere von Marseille. Ich liebe sie alle, weil sie leiden und insbesondere, weil Jesus Christus für sie auf Golgatha gestorben ist. Jesus hat sie alle geliebt bis zum Tode am Kreuz. Ich fühle mich getrieben, für sie zu beten und ihnen den Erlöser zu verkünden. «Herr, gib mir dazu die nötige Weisheit!»

Bei Cuxhaven

Unser Marschbefehl in Hamburg ist da. Wir sollen uns zur Abreise bereithalten, heisst es. In einer anderen Gegend sei eine dringliche Arbeit zu tun. Nach dem Appell werden wir in rasender Eile mit Lastwagen fortgebracht. Nachdem wir erst der Autostrasse nach Bremen gefolgt sind, wenden wir nach Norden gegen Harburg und folgen der Elbe gegen die Nordsee zu. Meine wenigen Kenntnisse der deutschen Sprache genügen, um mich zum verantwortlichen Arbeitsleiter dieser Abteilung zu
ernennen.

Bei Cuxhaven halten die Wagen. Man führt uns zu einem grossen Schiff. Etwa 300 Meter entfernt befindet sich ein Depot von Backsteinen. Die Deutschen erklären mir nun: «Ihr habt acht Tage Zeit, um 286 000
Backsteine zu laden. Wenn die Arbeit bis dahin nicht beendet ist, werdet ihr bestraft. Ihr bleibt ohne Aufsicht hier; sollte aber einer flüchten, dann hat seine Familie in Frankreich die Folgen zu tragen.» Der Befehl lässt keine Widerrede zu. Vor der Abfahrt erhalten wir unsere Verpflegung für diese Zeit. Sobald wir allein sind, untersuchen wir den Proviantvorrat. Er erscheint uns recht mager: 30 Kilo Kartoffeln und acht Kilo Brot! Wir sind 26 Männer und müssen uns damit während acht Tagen behelfen.

Die Kameraden sind niedergeschlagen, in ihren abgezehrten Gesichtern spiegeln sich Enttäuschung und Entrüstung. Einige schimpfen, andere beginnen zu fluchen. Was tun? Ich überlasse sie erst mal ihrem Ärger. Als dieser etwas nachlässt, versuche ich, ihren Herzen näher zu kommen. Angesichts aller Mühsale und Ungerechtigkeit fühle ich mich machtlos, aber ich flehe zu Gott um seine Hilfe und sein Erbarmen.

«Meine Freunde», so beginne ich, «ich bin mir des Ernstes unserer Lage völlig bewusst. Gewiss ist sie nicht angenehm. Aber warum wollt ihr Gott dafür anklagen? Wir wollen ihn doch lieber um Hilfe bitten, denn nur er allein kann hier helfen.»

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 07+08/2023