Plato ordnete Kinder den Tieren zu, Aristoteles sah Kinder noch nicht als Menschen und bei den Römern war das Neugeborene mehr Pflanze denn Tier, gesellschaftlich inexistent. Die Einstellung Jesu zu Kindern war schlichtweg revolutionär.
Dr. Ulf Strohbehn
26. Dezember 2016

Als junger Missionar in Afrika wurde ich einmal Zeuge eines für mich erschütternden Beerdigungsrituals. Es war ein kleiner Sarg, der dort zum Friedhof getragen wurde. Ein Mädchen, wohl keine sechs Monate alt, war an Malaria gestorben. Mir fiel auf, dass keine Männer anwesend waren. In Malawi werden Gräber zwei Meter tief ausgehoben. Hier war die Grube nur knietief. Als ich nachfragte, warum zumindest der Vater nicht dabei war und der Sarg so seicht vergraben wurde, antwortete mir eine ältere Frau: «Dieser Säugling war noch kein vollwertiger Mensch, deswegen gibt es auch keine richtige Beerdigung.»

Im ostafrikanischen Kulturkreis ist man nicht als Mensch geboren, man wird dazu. Körperliche Veränderungen werden durch Rituale markiert und gefeiert. Ein Kind, das älter als zwei Jahre alt ist, gehen und sprechen kann und an dem entsprechende Rituale vollzogen wurden, ist nicht nur biologisch, sondern auch sozial geboren.


Kindsein als Risiko

Europäische Kulturen wurden vornehmlich durch die Griechen und Römer geprägt. Was für einen Begriff hatten die Griechen von Kindern? Plato ordnete Kinder den Tieren zu und lehrte, dass Kinder noch viel verschlagener und hinterhältiger als andere Kreaturen seien. Aristoteles war der Meinung, dass Kinder noch keine Menschen seien. Einzig gut an ihnen sei das Potential, ein Erwachsener zu werden. Bei den Römern gab es wenige Tage nach der Geburt eine Zeremonie, genannt dies lustricus, durch die das Kind rituell gereinigt und offiziell in die Familie aufgenommen wurde. Nur – es konnte ebenso abgelehnt werden. Denn gesellschaftlich existierte kein Kind vor der Zeremonie, es wurde «mehr als Pflanze denn als Tier angesehen».


Bedrohte Kinder

Aufgrund dieser Vorstellungen waren Kinder in der Antike in einem Masse bedroht, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können. Konkret lauerten vier Gefahren: Abtreibung, Säuglingsmord, Aussetzen und Pädophilie. Im Vergleich waren die ersten beiden Gefahren nicht sehr weit verbreitet. Das Aussetzen (expositio) von Säuglingen und selbst Kleinkindern war hingegen alltäglich. Kinder wurden an öffentlichen Plätzen nachts ausgesetzt und in der Nähe von Brunnen und Tempeln liegen gelassen. Gründe dafür waren Armut, eine aussereheliche Geburt, Angst vor einer Verhexung des Kindes, körperliche Behinderung sowie das unerwünschte Geschlecht des Kindes. Aus erhaltenen Bevölkerungsregistern ist bekannt, dass es in den meisten Familien mehr Jungen als Mädchen gab. Ein Kenner der Antike schreibt: «Mehr als eine Tochter wurde im Allgemeinen nicht aufgezogen.»

(Aussereheliche) Sexualität wurde in Griechenland und Rom nicht nach der Trennlinie «männlich – weiblich» definiert, sondern «frei – unfrei» machte den grossen Unterschied aus. In diesem Sinne war Sexualität nicht etwas, was zwei Menschen miteinander taten, sondern etwas, was einem vom anderen angetan wurde. Das Einbeziehen von Kindern in solche geschlechtlichen Handlungen war üblich. Pädophilie war kein Verbrechen, sondern nur eine erlaubte Spielart unter vielerlei Perversionen. «Rechte» hatten nur freie Menschen, und besonders versklavten Kindern drohte schon vor unserem Einschulungsalter permanente Prostitution.


Der umwälzende Einfluss Jesu Christi

«Da rief er ein Kind herbei und stellte es in ihre Mitte ... Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Grösste. Und wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf.»

Die Einstellung Jesu zu Kindern war schlichtweg revolutionär. Unser Herr hatte alttestamentliche Wertvorstellungen übernommen, diese aber noch wesentlich weiterentwickelt. Dazu kam, dass Jesus nicht als Erwachsener auf diese Welt kam, sondern seine Mission im Windelalter begann. Jegliche Gleichberechtigung, sei es zwischen verschiedenen Kulturen, Einkommensklassen, Ethnien, Geschlechter- oder Altersgruppen, nährt sich von der bedingungslosen Liebe, die Jesus Christus allen Menschen gegenüber zeigte ...

(Artikelauszug aus ethos 12/2016)