Wie verändert sich der Familienalltag, wenn das vierte Kind mit einer Behinderung geboren wird? Wie gehen die Eltern damit um, die Geschwister, der Freundeskreis? Und wie sieht diese Herausforderung ganz praktisch aus?
Kathrin und Andreas Körnich
1. August 2016

Kathrin (Schriftsetzerin und Hausfrau) und Andreas Körnich (Schulleiter) mit ihren Kindern Jakob (16), Aaron (12), Mirjam (10), David (8) und Noah (6) sprachen offen über ihre Erlebnisse und Gefühle.

Die Schwangerschaft verläuft normal. Doch plötzlich verschlechtern sich die Herztöne, ein Notkaiserschnitt wird nötig. Am 7. September 2007 wird David als viertes Kind der Familie Körnich geboren. Gleich nach der Geburt stellen die Ärzte eine Gaumenspalte fest. Das sei eine Routineangelegenheit, erfahren die Eltern, und nach einer Operation werde sich alles schnell normalisieren.


Nicht alles normal

Mehr Informationen bekommen Körnichs nicht. Mit der Diagnose «Gaumenspalte» bleiben sie allein. Sie sind verunsichert. Was bedeutet das für ihr Kind und für die Familie? Sie behelfen sich mit Google und finden eine ungefilterte Fülle an Informationen. Das ist nicht nur hilfreich. Manche Erläuterungen sind nützlich, andere verwirrend und nicht wenige sogar beängstigend.

Nach zwei Wochen Intensivstation wird David in die Uniklinik Tübingen verlegt, ins Zentrum für Mund- und Gesichtschirurgie. Nun erhalten die Eltern endlich alle notwendigen medizinischen Informationen zur Gaumenspalte und ihr Sohn eine gute Betreuung. David muss für einige Zeit auf der Intensivstation bleiben. Die Gaumenspalte wird mit einer speziellen Platte verschlossen. Damit kann der Säugling ohne Sonde ernährt werden und eine weitgehend normale Nahrungsaufnahme ist möglich.

Noch auf der Kinderintensivstation stehen zwei Humangenetiker neben Davids Bett. Das löst merkwürdige Gefühle aus: «Was wollen die, wenn nach der Operation alles wieder gut ist?» Die erste OP zum Verschluss der Gaumenspalte erfolgt, als der Junge sieben Monate alt ist. Sie verläuft erfolgreich. Doch danach ist nicht alles normal. Körnichs haben die Entwicklung eines Kleinkindes schon dreimal erlebt und stellen fest: David ist anders. Er dreht sich später, sieht anders aus – seine Ohren stehen ab. Er hat verstärkten Haarwuchs, seine Motorik ist eingeschränkt. Jedes Essen wird zu einem «Drama».

Auf Wunsch der Eltern überweist sie der Kinderarzt in das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) der Uniklinik Tübingen. David ist mittlerweile ein Jahr alt. Dort werden sie mit dem Befund konfrontiert. Ein «sehr unsensibler Professor» erklärt ihnen: Davids Kopf ist zu klein, wodurch sein Gehirn nicht ausreichend ausgebildet ist; er leidet an einer schweren geistigen Behinderung. Auch sein Körper ist zu klein, die Körperspannung sehr gering. David wird nie sitzen und laufen lernen, ist also auch körperlich ein schwerstbehindertes Kind. Die Eltern sind wie vor den Kopf geschlagen. Doch langsam weicht der Schock ihrem Realitätssinn: Sie hatten ja gemerkt, dass ihr Kind allgemein zu klein und seine Entwicklung verzögert war. Deshalb hatten sie auf einer Untersuchung bestanden – nun passte alles zueinander.


Optimismus erwacht

Davids behandelnde Ärzte zeichnen sich durch hohe Professionalität und Einfühlungsvermögen aus. Auch die Eltern bilden sich selbstständig weiter, um zu erfahren, was für ihren Sohn hilfreich ist und was nicht. Bei ihrer Recherche hören sie von einem Gendefekt, welcher alle Merkmale aufweist, die sie bei David beobachten, dem sogenannten «Kabuki-Syndrom». Diese Diagnose wird im Jahr 2011 bestätigt.

Nach dem niederschmetternden Befund erwacht bei den Eltern schnell neuer Optimismus: David ist zwar behindert, sagen sie sich, aber er hat Entwicklungspotenzial. Von Anfang an erhält der Junge verschiedene Therapien: Physio-, Ergo- und Logotherapie und zusätzlich eine Frühförderung. Auch die Körnichs investieren viel Zeit in diese Therapien. Sie sind dankbar für das Gesundheitssystem in Deutschland, das die Finanzierungen für die notwendigen Therapien, Hilfsmittel und Nahrungsergänzungen in der Regel ohne Probleme übernimmt. Wenn einmal etwas hakt, treten sie vehement für David und seine Rechte ein. «Da wird man selbstbewusster mit der Zeit», stellen sie fest. Auch das Pflegegeld hilft: Für Kathrin Körnich ist die Betreuung ihres Sohnes ein Vollzeitjob geworden.

(Artikelauszug aus ethos 8/2016)