Der tiefe Fall des Spitzenkochs – und wie er durch Gottes Gnade zu wahrer Grösse fand.
Daniela Wagner
19. Juni 2021

André, deine Kindheit war geprägt von Armut, harter Arbeit und Gewalt. Du vergleichst sie mit der eines Verdingkindes.

Ja. Doch damals kannte ich es nicht anders. Aufgewachsen bin ich weitab vom Schuss, in den Bergen auf einem Alp-Bauernhof. Für mich war es normal, wie ein Esel zu «krüppeln». Täglich musste ich ganz früh aufstehen, damit ich vor der Schule bei der Stallarbeit helfen konnte. Danach machte ich mich auf den Schulweg ins Dorf runter. Dafür brauchte ich eineinhalb Stunden. Es erklärt sich damit von selbst, dass keiner meiner Schulkollegen diesen weiten Weg zu mir auf sich nahm. Meine Schwester ist einiges älter als ich und so wuchs ich praktisch als Einzelkind auf. Ich hatte nie andere Kinder zum Spielen, mein Stiefvater fand dies sowieso nicht nötig.

Eine Erinnerung aus meiner Kindheit hat sich tief in meinem Innern eingebrannt. Meine Patentante hatte mir einen wunderschönen Lederfussball geschenkt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darüber gefreut habe. Glücklich kickte ich damit auf dem Hof, bis mein Stiefvater kam und den Ball mit einer Heugabel kaputt stach: «Du bist nicht zum Spielen da, sondern um zu arbeiten», war sein Kommentar.

Er misshandelte meine Mutter und mich verbal wie körperlich, ich kannte kein harmonisches Familienleben. An den Wochenenden kehrten Wanderer in unsere Festwirtschaft ein. So gut ich konnte half ich Mutter in der Küche mit der zusätzlichen Arbeit. Sie war eine liebe Frau, setzte sich aber gegen meinen Stiefvater nie zur Wehr.

Und du, hast du nie dagegen rebelliert?

Nein, eigentlich nicht. Ab und zu mal ausgeflippt bin ich schon.

Eines Tages musste ich wieder schwere Jaucherohre den Berg hochschleppen. Meine Schultern brannten unter der Last und ich brach fast zusammen. Fluchend buckelte ich alles hoch. Oben konnte ich nicht mehr und schmiss wütend die schwere Last den Berg runter. Ich Depp, nun musste ich alles wieder hochtragen. Weggelaufen bin ich nie, wo hätte ich auch hin sollen?

Doch dann war die Schulzeit vorbei.

Ja – und ich schwor mir, dass mein Leben nun anders verlaufen würde! Ich wollte reich werden und mir einen Namen machen. Mit grossem Ehrgeiz begann ich, dieses Ziel zu verfolgen.

Mein Berufswunsch war Koch. Ich hatte das «Glück», in einem absoluten Spitzenrestaurant die Ausbildung machen zu können. Es war alles recht abgehoben für einen Bauernjungen wie mich. Eine völlig neue Welt tat sich mir auf. Ich hängte gleich noch die Servicelehre an, mein Leistungsausweis war super.

Noch während meiner Ausbildungszeit fuhr ich auf die Alp zu meiner Mutter. Der Stiefvater war gerade nicht zugegen und ich forderte sie auf, ihre Sachen zu packen und mit mir zu kommen.

In einem Heim für schwererziehbare Jugendliche fand sie eine Anstellung in der Küche. Jeden Rappen, den ich entbehren konnte, gab ich ihr ab. Manchmal reichte mein Geld deshalb nicht mehr für ein Bahnbillett, um sie besuchen zu können. Den wahren Grund meines Fernbleibens verriet ich ihr aber nie, sondern erfand jeweils eine Ausrede.

Beide Lehren schloss ich sehr gut ab. Ich kam von einem Spitzenhaus ins nächste.

Noch sehr jung wurde ich Küchenchef, dann Geschäftsführer. Als ich diesen Posten wieder abgab, betrug der Umsatz das Elffache von dem, was er bei meiner Einstellung betragen hatte. Das Restaurant lief ohne Ende und ich hatte als Vierundzwanzigjähriger blödsinnig viel Geld zur Verfügung. Ich konnte mir all meine Träume verwirklichen, spazierte beim Autohändler rein, zahlte einen Wagen für 80 000 Franken in bar und kaufte meiner Lebenspartnerin grad auch noch einen schnittigen Flitzer. Jeglichen Bezug zum «wirklichen» Leben hatte ich verloren, meinen neuen Lebensstil genoss ich in vollen Zügen und unterstützte weiterhin meine Mama. «André Heiniger» war eine bekannte Grösse geworden, ein gemachter Mann. Manch gutes Haus warb um mich ...

Könnte man sagen, Erfolg, Geld, viele Bewunderer, «Freunde» in der Oberschicht und das Begehrtwerden von Frauen war dein Treiber?

Genau. Nur der Erfolg trieb mich an, das Ziel, das ich immer hatte erreichen wollen! Tagtäglich sagte ich mir: Ich will nie mehr so arm sein wie ich aufgewachsen bin. Die Medien wurden auf mich aufmerksam, man wollte Interviews mit mir machen. Das fühlte sich richtig gut an. In dem Ranking der Gault Millau- Punkte stieg ich immer höher, schliesslich schafften wir 17 Punkte, und das in einem Haus mit 95 Sitzplätzen.

Ich war gerade Fünfzig geworden und neuer Pächter von meinem Lieblingsrestaurant (vor dieser Zeit hatte ich fünf Restaurants gleichzeitig in Pacht). Es war ein Objekt mit einer riesigen Terrasse, bot Platz für zahlreiche Gäste und lag verkehrstechnisch günstig. Verhandlungen wurden geführt, und schliesslich war ich der stolze Besitzer.

Es ist schon verrückt, überall bist du der Star. Immer Arbeit, Rummel oder Party. Wenn du Geld und einen Namen hast, ist alles begeistert von dir. Stell dir vor, ich bekam mal eben in meine Attikawohnung von Freunden eine neue Küche geschenkt mit allen Schikanen. Ein anderer Kollege beschenkte mich jede Saison mit den neuesten Skimodellen, weil er da Connections hatte, lud mich in sein Luxus-Winterdomizil ein – überall hatte ich Vitamin-B-Vorteile.  

War da nie die Frage, ob das wirklich alles ist? – Und was wäre, wenn du das alles nicht mehr hättest; alt und keine Kraft mehr, zu arbeiten?

Das war nie ein Thema, ich war so eingenommen von mir selbst! Wenn du wüsstest, was für selbstherrliche Sprüche wir in der Küche laufen liessen. Wir spielten uns als Gott auf. Alles schien möglich: Ich, der Macher meines eigenen Glücks!

Es gab sie schon, diese Momente, die sich von meinem übrigen Lifestyle abhoben. Ab und zu luden mich Christen zu Anlässen ein, an denen christliche Geschäftsleute aus ihrem Leben erzählten und wie Gott es verändert hatte. Ich dachte höchstens, die Typen haben echt Glück gehabt, dass sie die Kurve so gekriegt haben. Null und nichts habe ich auf mich transferiert. War ich privat bei meinen gläubigen Freunden eingeladen, spürte ich wohl eine Harmonie und Wärme, wie ich sie sonst nicht kannte. Aber dann, zurück in meinem Reich, beglückte mich mein Luxus, meine Wohnung, mein Restaurant, meine Arbeit. Leer oder ausgebrannt – nein, solche Gefühle waren mir fremd.

Dann, auf dem Höhepunkt deiner Karriere – eben erst ein Restaurant gekauft und mit einem tollen Mitarbeiterteam unterwegs, dazu eine eigene Kochschule und eine Produktionsfirma – ereilte dich eine Hiobsbotschaft.

Mehr «zufällig» wurde bei mir ein fast kompletter Verschluss am Herzen diagnostiziert, die Lebenserwartung mit wenigen Tagen beschrieben. Obwohl ich mich blendend fühlte, hatte ich beschlossen, mich einem Gesundheitscheck zu unterziehen, weil ich fand, es sei mal an der Zeit für so etwas. Selbst mein Hausarzt meinte, dazu gäbe nichts Anlass, aber wenn ich unbedingt wolle ... Ja, und dann fiel das Ergebnis so ganz anders aus als erwartet. Ich wurde direkt ins Spital verfrachtet, eine Notoperation folgte.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 06/2021.