Ist sie eine Erkrankung unseres Gehirns, der die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zum Opfer fällt? Ist es eine charakterliche Schwäche oder ein Fehlverhalten? Oder haben wir es bei der Sucht mit fehlgeleitetem Entscheiden zu tun? Vielleicht ist die Sucht eine eigene Kraft, die sich am besten mit sich selbst erklären lässt.
Jugendalter und Sucht
Süchte entwickeln sich überdurchschnittlich oft in der Jugendphase. Je nachdem, wie also in bestimmten Gesellschaften und Jugendkulturen die Altersphase von 13–33 Jahren geprägt ist, werden Menschen unterschiedlich gefährdet sein, mit Suchtmitteln in Berührung zu kommen oder auch auf sie dauerhaft zurückzugreifen.
Die Teenager einer kleinen christlichen Gemeinde sind sehr wenige, sodass sich nur eine schwache Gruppendynamik aufbaut. Einige von ihnen orientieren sich deswegen an den Gleichaltrigen in ihrer Schule, um sich ihres Erwachsenwerdens zu versichern. Um bei den Mitschülern zu landen, beginnen einige zu kiffen. Das Kiffen selbst hat anfänglich den Charakter eines Initiations- und Vergemeinschaftungsrituals. Einige Jugendliche erleben aber parallel dazu, wie ihre jugendbezogenen Probleme an Schmerzhaftigkeit verlieren, sobald sie bekifft sind. Mehr und mehr greifen sie auf Cannabis (auch allein) zurück, anstatt andere Strategien zu erlernen und zu trainieren, wie Probleme bewältigt werden könnten.
Die Jugendphase ist demnach nicht allein deshalb eine «vulnerable Phase», weil das Gehirn in besonderer Weise prägbar ist oder junge Menschen noch über unzureichende Selbststeuerung verfügen. Sie stehen auch vor einem Berg an «Entwicklungsaufgaben», die es zu bewältigen gilt. Lediglich 10 % der suchtmittelkonsumierenden Jugendlichen haben bereits im Kindheitsalter mit dem Konsum begonnen. Für die anderen 90 % der Jugendlichen scheint Sucht in irgendeiner Weise «funktional mit den Entwicklungsaufgaben verknüpft zu sein», schreibt Olaf Reis1.
Die Übersicht (S. 26) zeigt die Verknüpfung von Entwicklungsaufgaben und Süchten im Jugendalter. Sie machen die besondere Gefährdung Jugendlicher deutlich. Allerdings normalisiert sich manches vormals suchtartige Verhalten gegen Ende der Jugendphase, wenn die Entwicklungsaufgaben weitgehend gemeistert wurden und Suchtmittel ihre Funktion verlieren. Werden Jugendliche bei der Meisterung dieser Herausforderungen unterstützt, kann dies ein Schutzfaktor gegen Süchte sein.
Ursachen in der eigenen Persönlichkeit
Menschen werden mit einer unterschiedlichen Geneigtheit zur Sucht geboren. Selbst wenn Kinder von Alkoholikern bei Adoptiveltern aufwachsen, sind sie später häufiger vom selben Suchtmittel abhängig als andere Adoptivkinder. Es scheint einige biologische Hintergründe zu geben. Dennoch: Ich persönlich stehe allen Versuchen, die Entstehung einer Sucht auf genetische oder epigenetische Erklärungen zurückzuführen, kritisch gegenüber. Auf gesellschaftlicher Ebene scheint mir die Suche nach der biologischen «Essenz» als Alibi: «Schaut, diese Menschen wären eh süchtig geworden, egal wie die Gesellschaft gestrickt ist.» Auf persönlicher Ebene scheint es mir eine Schutzfunktion zu sein, den eigenen Anteil an Suchtentstehung und -überwindung klein halten zu wollen. Selbst für die Angehörigen von Süchtigen bietet es Entlastung, denn es entbindet von einem Erkennen und Verändern suchtbegünstigender Faktoren im Nahfeld.
Allerdings dürfen wir nicht ausser Acht lassen, dass es auf der Ebene von Persönlichkeit sehr wohl äusserst bemerkenswerte Zusammenhänge gibt. Denn je nach Persönlichkeitstyp vermag die Sucht unterschiedliche Funktionen in der Alltagsbewältigung von Menschen einzunehmen, wie Heinz-Peter Röhr2 ausführt. Als Kern vieler Süchte hat er einen Mangel an Geliebtsein, einen Mangel an Selbstwert beobachtet. Je nachdem, wie es einem Menschen gelingt, in gesunden Beziehungen diese Bedürfnisse zu erfüllen, wird ein Mensch suchtanfälliger sein oder nicht. Selbst Menschen, die auf der Oberfläche nicht einsam sind, erleben sich emotional unterversorgt und somit suchtanfällig. Je nach Persönlichkeit wird der Sucht dabei eine ganze andere Funktion zukommen: Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstruktur nutzen nach Hans-Peter Röhr bspw. Suchtmittel, um inneren Groll gegen sich und andere zu dämpfen, eigene Grössenfantasien zu befeuern oder Kränkungen und Niederlagen zu kaschieren. Bei hysterischer Persönlichkeitsstruktur hingegen wird ein Suchtmittel eher sozial eingesetzt – bspw. als Druckmittel – oder auch, um einer überfordernden Welt zu entfliehen. Schwierigkeiten bei Impulskontrolle, Frustrationstoleranz und der Fähigkeit zur Emotionsregulation sind freilich Persönlichkeitseigenschaften, die bei allen Menschen eine Suchtentstehung begünstigen können.
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 06/2019.