Mit seinen mächtigen bis zu ein Meter langen Hörnern und dem kräftigen Körper ist der Alpensteinbock (Capra ibex) zweifellos eines der imposantesten Tiere unserer Bergwelt. Viele wissen jedoch nicht, dass ausschliesslich die männlichen Tiere den eindrucksvollen Kopfschmuck tragen. Ob ich die Gämsen auch gesehen hätte, so sprachen mich schon mehrmals Wanderer an, wenn ich mit meinem Fotoapparat in den Bergen unterwegs war. Fragte ich dann etwas genauer nach, stellte sich meistens heraus, dass die Leute keine Gämsen, sondern Steingeissen, weibliche Steinböcke, gesehen hatten. Denn im Gegensatz zu den Böcken verfügen diese und auch die jungen Männchen nur über kurze, feine Hörner.
Das sichelförmige, mit so genannten Schmuckknoten versehene Gehörn gilt als Markenzeichen des Steinbocks. Im Gegensatz zu den hirschartigen Tieren, welche ihre Geweihe jedes Jahr abwerfen, um sie auf die Brunftzeit hin wieder aufzubauen, wachsen die Hörner der Steinböcke ein Leben lang. Form und Länge der Hörner geben Auskunft über die Lebensgeschichte und das Alter des Tieres. Meist bilden sich zwei Schmuckwülste pro Jahr. Jedoch stimmt die weit verbreitete Meinung nicht, dass das Alter der Anzahl Wülste entspricht. Zur Altersbestimmung dienen die Jahrringe an der Hinterseite.
Hervorragender Gebirgsspezialist
Der Alpensteinbock kommt im ganzen Alpenbogen von Frankreich bis Slowenien vor. Heute befinden sich in diesem Raum rund 45 000 Tiere, davon etwa 15 000 in der Schweiz. Steinböcke halten sich oberhalb der Waldgrenze auf und können sich bestens an das steile, felsige und reich strukturierte Gelände anpassen. Hingegen meiden sie grosse Schneemassen, die ihnen wegen der verhältnismässig kleinen Hufe grosse Mühe bereiten. In besonders langen, schneereichen Wintern kommen deshalb viele, vor allem schwächere Tiere in Lawinen oder wegen Futterknappheit um. Das Steinwild bevorzugt zusammenhängende Bergmassive mit Ost-West-Ausrichtung. So kann es sich im Winter auf den sonnenexponierten Südhang zurückziehen und dem Schnee ausweichen. Männchen und Weibchen mit ihren Jungtieren leben den grössten Teil des Jahres in getrennten Verbänden.
Vereinzelt treibt der Hunger die Tiere im Frühling bis in den lichten Waldgürtel hinab. Im Sommer hingegen fliehen sie vor der Hitze und steigen in grössere Höhen auf, am liebsten zwischen 2500 und 3000 Meter, wo sie auf Grasflächen ihre Nahrung finden.
Anfang Sommer ziehen sich die trächtigen Geissen in schwer zugängliche Nischen zwischen den Felsen zurück und gebären dort ihr Junges. Nur selten bringen sie Zwillinge zur Welt. Danach stossen sie mit ihrem Kitz wieder zu den anderen Weibchen.
Die Bockgruppen teilen sich unterdessen in Gruppen von Gleichaltrigen auf und legen mit eindrücklichen Machtkämpfen die Rangordnung untereinander fest. Diese richtet sich weitgehend nach dem Alter, das heisst, die grösseren Böcke mit den längeren Hörnern sind dominant. Bereits die jungen Böcke ähnlichen Alters messen sich in spielerischen Kämpfen. Vor der Brunft, die im tiefsten Winter stattfindet, lösen sich die Bockverbände wieder langsam auf. Die Böcke gesellen sich vorübergehend zu den Weibchen, um sich zu paaren. Bereits Ende Winter gehen die Geschlechter dann wieder getrennte Wege.
(Artikelauszug ethos 09/2016)