Das verschwiegene Problem – wie vorbeugen, behandeln, betreuen?
Dr. Wolfgang Vreemann
17. Februar 2022

In den christlichen Gemeinden wird dieses Thema oft totgeschwiegen. Alkoholiker gibt es nur «in der Welt» – und die ist draussen vor der Tür, deshalb kennen wir «bei uns» dieses Problem nicht. Diese Haltung ist ziemlich gefährlich, denn auch innerhalb der Gemeinde kann der Alkohol unbemerkt zuschlagen. Daher ist die nötige Aufklärungsarbeit unter Christen notwendig. Wir müssen lernen, offen darüber zu reden und auf die Gefahren hinzuweisen, besonders bei Jugendlichen.

Kommt ein trockener Alkoholiker neu in die Gemeinde, bringt er im Allgemeinen diese Offenheit mit und dem sollte man sich anschliessen. Ein erster Schritt ist möglicherweise, den Kelch des Abendmahls nicht mit Wein, sondern mit Traubensaft zu füllen. Den Grund kann man allen mitteilen und so eine Kultur der Transparenz schaffen.

Wer Alkohol trinkt, denkt meist nicht daran, selbst auch in eine Abhängigkeit fallen zu können. Jeder glaubt doch: Mir passiert das nicht. Dabei ist es die erste und wichtigste Vorbeugemassnahme, sich selbst zu sagen: Wenn ich Alkohol trinke, stehe ich genauso wie mein Nachbar in der Gefahr, Alkoholiker zu werden. Das gilt ausnahmslos für jeden. Nur wenn ich die Flasche Bier oder das Glas Wein mit diesem Gedanken trinke, habe ich das richtige Problembewusstsein. Das braucht einem nicht den Geschmack zu verderben, schützt aber vor Missbrauch und Dosis­steigerung.

Wer ist besonders gefährdet? Vor allem Jugendliche, aber auch Menschen, die in Alkoholikerfamilien gross geworden sind. Ausserdem psychisch labile Personen und solche, die unter psychischen Krankheiten wie Depressionen, Ängsten und Zwangsstörungen leiden. Hier gilt in der Seelsorge erhöhte Wachsamkeit nach dem Grundsatz: Vorbeugen ist besser als heilen! Den depressiv Kranken oder den Angstpatienten kann man durchaus vertrauensvoll fragen, ob er ab und zu zur Erleichterung etwas trinkt. Liebevoll macht man ihm deutlich, dass Alkohol für ihn eine Gefahr darstellt.

Auch in christlichen Gemeinden kommt es vor, dass ein Mitglied (Männer häufiger als Frauen) in den Strudel des Alkoholismus hineingeraten ist, ohne es zu merken. Sollte mir irgendetwas auffallen, dann muss ich allen Mut zusammennehmen und den Betreffenden ansprechen. Das ist nicht einfach! Sehr schnell kann das Vertrauensverhältnis einen Riss bekommen oder eine Freundschaft sogar zerbrechen, wenn ich jemandem Alkoholmissbrauch unterstelle. Welchen Weg und welche Worte man wählt, welche Kontaktperson vielleicht helfen kann, dafür gibt es kein Patentrezept. Immer ist taktische Klugheit und Einfühlungsvermögen gefragt. Trotz der Schwierigkeiten muss ich bei Verdacht etwas tun, denn das Schweigen hat möglicherweise verheerende Folgen. Allerdings muss man immer mit massiver Abwehr rechnen. Eine einfache Erfahrungsregel: Je intensiver, lauter und aggressiver der Alkoholkonsum bestritten wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass tatsächlich ein Problem besteht. Jeder Süchtige leugnet möglichst bis zur letzten Phase seine Alkoholkarriere. Dennoch sollten wir dem Betroffenen sagen: «Wenn du Hilfe brauchst, komm zu mir!» Damit öffnet man ihm eine Notfalltür, die immer offensteht. Auf jeder Stufe bergab, in jeder Phase der Krankheit gibt es die Chance, umzukehren und Hilfe anzunehmen. Eigenhilfe ist leider meist zum Scheitern verurteilt. Aus eigener Kraft lässt sich die Sucht nicht überwinden. Auch das ist einem Gefährdeten deutlich zu machen.

Die richtige Haltung

Es ist nicht gut, wenn ich wie ein Oberlehrer auftrete, und noch schlechter ist es, die Wertschätzung gegenüber meinem Gesprächspartner zu verlieren und ihn wie einen Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Diese Gefahr besteht nämlich, wenn mein Gegenüber mir dauernd mit Unverständnis, Ignoranz und Aggressionen begegnet, ich aber genau weiss, dass seine Situation immer weiter abwärts führt. Da kann man schon mal in Wut geraten. Ich darf auch einmal drastische Worte benutzen, sollte aber meinem Gegenüber gleichzeitig meine Bruderliebe und Fürsorge signalisieren. Dennoch ist es im Krankheitsverlauf möglich, dass der Kontakt zwischen Seelsorger und Betroffenem ganz abreisst und niemand mehr an ihn herankommt, weil er einfach «dicht macht». Das muss ich dann auch aushalten. Überhaupt braucht man in der Suchtkranken-Seelsorge ein sehr dickes Fell, unendlich viel Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 03/2022