Ich lernte dich kennen, als ich acht Jahre alt war. Anlässlich einer Vortragstournee in der Schweiz warst du bei uns zu Gast. 29-jährig und seit einem Badeunfall mit 17 im Rollstuhl, vom Hals
abwärts gelähmt – weisst du noch, was deine Botschaft, deine Motivation für die weltweiten Vorträge war?
Ich hatte ja keine Ahnung, dass meine Autobiografie «Joni» einmal in 57 Sprachen übersetzt werden würde. Dieses Buch öffnete mir viele Türen. Ich wurde in zahlreiche Länder eingeladen, um meine Geschichte zu erzählen. Zuerst zögerte ich, doch dann erkannte ich, dass Gott es war, der mir diesen Auftrag gegeben hatte. Er schenkte mir grössere Möglichkeiten und wollte, dass ich diese Gelegenheiten wahrnahm, um den Menschen von seiner Liebe, die ich erfahren durfte, zu erzählen. Also entschied ich mich, nach Übersee zu reisen, um meine Erfahrungen weiterzusagen: «Gott lässt zu, was er hasst, um das zu vollbringen, was er liebt.»
Es ist eine Botschaft, mit der sich jeder identifizieren kann. Jedem von uns begegnen schwierige Dinge. Aber Gott lässt Bedrängnis und Mühsal zu, um etwas Wunderschönes in uns zu vollbringen: Christus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit.
Inzwischen sind 38 Jahre vergangen. Du hast viele Bücher geschrieben, verschiedene Hilfsprojekte ins Leben gerufen, ein Kinofilm wurde über dich gedreht ... Was treibt dich heute an?
Es gibt mehr als eine Milliarde Menschen mit einer Behinderung, 80 % davon leben in Entwicklungsländern und kämpfen gegen die Hoffnungslosigkeit. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass das Leiden, mit dem diese Leute konfrontiert sind, nur ein Vorbote des noch viel grösseren Leidens einer Ewigkeit ohne Christus ist. Deshalb möchte ich jedes Quäntchen Kraft aus meinem querschnittgelähmten Körper herauspressen und alles dafür tun, diese Leute mit praktischer Hilfe und Gottes Hoffnung zu erreichen.
Jeder Tag, den Gott schenkt, ist ein Tag, um zu seiner Ehre zu leben, seine Absicht, sein Ziel zu erfüllen. Mein Ziel ist es, anderen zu helfen, die Wahrheit aus 2. Korinther 12,9 immer besser zu verstehen, nämlich, dass Gottes Kraft am besten in unserer Schwachheit offenbar wird. Solange ich also die Kraft und Ausdauer dazu habe, möchte ich diese Botschaft verkünden. Es gibt zu viel Leiden und Hoffnungslosigkeit in dieser Welt, um einfach still an der Seitenlinie zu stehen.
Zu deiner Querschnittlähmung kam vor einigen Jahren noch die Diagnose Krebs. Es folgten Chemotherapien, unsägliche Schmerzen. Wie geht es dir heute?
Obwohl mein Kampf gegen den Krebs im dritten Stadium fünf Jahre zurückliegt, muss ich dennoch regelmässig Tests und Scans durchführen lassen. Auch habe ich täglich mit chronischen Schmerzen zu kämpfen. All dies zusätzlich zum Älterwerden und der Querschnittlähmung macht das tägliche Aufstehen zu einer echten Challenge.
Nach fast 50 Jahren als Querschnittgelähmte gibt es immer noch Tage, an denen ich denke: «Ich kann nicht mehr! Ich habe die Kraft nicht.»
So fühlte sich wohl der Apostel Paulus, wenn er im zweiten Korintherbrief schreibt: «...wir waren übermässig beschwert, über Vermögen, sodass wir sogar am Leben verzweifelten. Wir selbst aber hatten in uns selbst schon das Urteil des Todes erhalten ...»
Ich bin mir sicher, dass viele leidende Leute dies sagen könnten. Doch der nächste Vers ist so ermutigend. Da schreibt Paulus: «Das geschah aber darum, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst stellen sollen, sondern auf Gott» (2. Kor. 1,9). Mit anderen Worten: Je schwächer wir sind, desto mehr müssen wir uns an Jesus anlehnen. Je mehr wir das tun, desto intensiver werden wir Gott erleben.
Hast du Gott nie gesagt: «Nun ist es genug. Herr, warum wieder ich?»
Immer wenn ich denke, ich hätte bereits genug Leiden erlebt, erinnert mich der Heilige Geist an das Wort: «Denn dazu seid ihr berufen; da auch Christus gelitten hat für uns und uns ein Vorbild gelassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fussstapfen» (1. Petr. 2,21). Niemand von uns wird je so leiden müssen wie unser Herr. Oft denke ich an ihn und wie er am Kreuz gedient hat. Er ermutigte den Verbrecher, der neben ihm gekreuzigt wurde, legte Johannes seine Mutter ans Herz und vergab den Menschen, die sein Leiden verursacht hatten. Dies alles tat er von seinem «Totenbett» aus. Bin ich denn über meinem Meister? Ich denke nicht. Ich darf darauf vertrauen, dass er mir das Kreuz gibt, welches ich mit seiner Hilfe tragen kann. Es ist ein Kreuz, das kein Gramm zu viel wiegt oder auch nur einen Zentimeter zu lang ist.
(Interviewauszug aus ethos 09/2016)