Christine Ebert begleitet Patienten ab dem Zeitpunkt ihrer Krebsdiagnose. Jahrelange Erfahrung und persönlich erlebtes Leid machen sie zu einer geschätzten Weggefährtin. Im Interview erzählt sie von ihrer Arbeit – über Trauer, Freude und den Gewinn, himmelorientierter zu leben.
Interview: Daniela Wagner
20. Oktober 2022

Vorneweg vielleicht eine etwas seltsame Frage: Sind Sie mehr mit dem Tod oder mit dem Leben beschäftigt?

Natürlich spielt der Tod berufsbedingt eine grosse Rolle in meinem Leben. Aber ich glaube nicht, dass ich mehr an ihn denke als andere Menschen. Ich lebe gerne. (lacht)

Wie kommt man dazu, auf der Onkologie zu arbeiten? Naturgemäss weicht man dem wohl eher aus, oder?

Während meiner Ausbildung hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Bei der Schicht­übergabe auf der chirurgischen Station wurde von einer Patientin berichtet, die man am Vormittag operiert hatte, danach aber gleich wieder «zumachte» – sie war bereits voller Krebs. Jede Hilfe kam bei ihr zu spät. Das löste in mir den Wunsch aus, Patienten in solch einer Situation beistehen zu dürfen. Wenn man ihnen auch nicht mehr helfen konnte im Sinne von Heilen, so müsste man sie doch wenigstens in dieser Zeit begleiten und unterstützen können. Ich bewarb mich auf einer onkologischen Abteilung und entdeckte meine persönliche Stärke für die medizinische und empathische Betreuung von Tumorpatienten.

Für mich ist es ein Geschenk, dass mir der Umgang mit schwer kranken Menschen leichtfällt. Es bedeutet mir viel, sie betreuen zu dürfen, mit ihnen zu reden, für sie da zu sein. Ich habe keine Hemmungen vor Leid.

Mussten Sie in Ihrem persönlichen Leben auch schon «Leiderfahrung» machen?

Ja. 1994 kam unser Sohn Michael gesund zur Welt. Doch auf einmal ging es ihm sehr schlecht. «So sehen meine Patienten aus, wenn sie sterben», dachte ich, und tatsächlich verstarb er wenig später. Bei der Obduktion kam heraus, dass er eine Streptokokken-Sepsis hatte – er muss sich während der Geburt angesteckt haben.

War es für Sie in dieser Phase hilfreich, den Umgang mit Leid gewohnt zu sein? Kann man sich auf sowas vorbereiten?

Nein. Als es mich persönlich traf, war ich haltlos und stürzte in eine schwere Krise. Es war schlimm! Einige Monate blieb meine Bibel ungeöffnet. Mit Psalm 91 (siehe Box) hatte ich ein besonders grosses Problem. Ich hatte nicht erlebt, was da stand und konnte Gott überhaupt nicht mehr verstehen. Aber im Unterbewusstsein war mir klar, dass ich ausser Gott nichts anderes habe, an dem ich mich festhalten kann. In dieser Zeit war für mich vieles wie von einer dunklen Wolke überschattet.

Das Erste was ich las, als ich dann doch wieder zur Bibel griff, war das Buch Hiob. Da verstand ich manches plötzlich ganz anders, tiefer. Ich realisierte Gottes Souveränität über allem und dass er mir nicht erklären muss, warum was passiert. Darin konnte ich ihm auf jeden Fall Recht geben – er ist der Schöpfer, wir seine Geschöpfe.

Recht geben oder sich vom himmlischen Vater geliebt wissen – das ist dann aber nochmals ein Sprung ...

Ja, das stimmt; erst mal war es nur eine gewisse Akzeptanz. Dann zeigte mir der Herr aber auf verschiedene Weise seine grosse Güte. Ich wurde kurze Zeit später erneut schwanger und wir bekamen 364 Tage nach Michaels Geburt Thomas geschenkt. Für mich war dies ein grosser Beweis, bei Gott nicht vergessen zu sein. In meiner Trauergruppe gab es viele Frauen, die nicht wieder schwanger wurden, grosse Probleme hatten ...

Ein weiteres Zeichen von Gottes Liebe und Fürsorge war das grosszügige Angebot von guten Freunden; sie boten uns ein geräumiges, neues Haus sehr günstig zur Miete an. Mir war sofort klar: Das ist etwas «Übernatürliches», was wir da erhalten.

Wie ist Ihr Umfeld mit dem Verlust Ihres Sohnes umgegangen?

Wenn man sowas Schweres erlebt, verliert man einerseits Freunde und andererseits sind da plötzlich Menschen, mit denen man so gar nicht gerechnet hat. Mich begleiteten zwei liebe Frauen, bis heute sind sie enge Freundinnen. In meiner gros­sen Trauer waren sie einfach da, sagten gar nicht viel ... und das war wohl das Beste für mich. Auch meinem Mann bin ich für seine grosse Unterstützung sehr dankbar.

Bestimmt hat mir auch der Alltag geholfen. Wir hatten eine kleine Tochter, die mich brauchte und mich von der Trauer ablenkte.

Hat dieses Erleben Einfluss auf Ihre Arbeit?

Auf jeden Fall. Durch meine Leiderfahrung ist es mir möglich, Menschen zu erreichen und mitzufühlen. Ich musste selbst schmerzhaft erleben, dass viele Menschen unsensibel sind oder auch verletzend und ungeschickt mit einem umgehen. Das hat mich gelehrt, was guttut oder was stört.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 11/2022