
Schon als Kind litt ich unter chronischen Selbstzweifeln. «Ihre schriftlichen Arbeiten sind hervorragend, aber Ihr Mangel an Selbstvertrauen ist alarmierend», schrieb meine Rektorin einmal in einer Bewertung meiner schulischen Fortschritte. Schüchternheit, eine tiefe Abneigung gegen Menschenmengen: Bis heute weiss ich nicht, woher diese krankhafte Angst kam, hatte ich doch die liebevollsten, fürsorglichsten Eltern, die man sich vorstellen kann. Niemand hat mich verbal niedergemacht, verletzt oder mir je vermittelt, ich sei nicht gut genug.
Manche Sprüche, die in unserer modernen christlichen Kultur grosszügig Buchtitel und Konferenzbroschüren zieren, klingen in ängstlichen Ohren, wie ich sie früher hatte und manchmal noch habe, wie Balsam für die Seele: «Entdecke deine Stärken!», «Finde deine Berufung!», «Steh zu dir!», «Folge deinem Herzen, höre auf deine innere Stimme!», «Träume mit Gott!» In den Ohren von Menschen, die von sich selbst überzeugt sind, können sie zu einer giftigen Selbstvergötterung und Selbstsicherheit führen, die ebenso schädlich ist wie chronische Unsicherheit.
Die Bibel bietet einen besseren Weg. Auch dort gibt es die Anti-Helden, die ängstlich, mutlos, eingeschüchtert und ausweichend durchs Leben gehen und von denen wir wohl nie etwas gehört hätten, wäre Gott nicht bei ihnen aufgetaucht. Und dann gibt es die, die sich durchaus in der Lage sehen, das «Team Gott auf Erden» zuversichtlich von Erfolg zu Erfolg zu führen. Diese haben nicht meine Probleme: sich ständig in Frage stellen, schlaflose Nächte nach jeder mutigen Aktion, nagende Sorgen, ob ich wirklich alles richtig gemacht habe, was die anderen wohl von mir denken werden, ob Gott wirklich mit dem einverstanden ist, was ich tue und sage.
Gebeugte Gestalten wie Hagar, Lea, Rut, Naemi, Hiob, König David, die Propheten Jeremia und Daniel, zweifelnde Jünger Jesu wie Timotheus, der Freund des Paulus, sowie die gebrochenen Existenzen einer Maria Magdalena und vieler anderer, die bei Jesus Hilfe suchten: Sie hätten wohl nur den Kopf geschüttelt, wenn sie jemand mitten in ihren existenziellen Lebenskrisen mit einem flotten Wohlfühlspruch wie «Mach dir keine Sorgen – Gott findet dich toll!» abgespeist hätte. Schön und gut vielleicht für makellose Biografien, die noch nicht von den Schrammen und Blessuren des Lebens gezeichnet sind, für Hollywood auf fromm, in Pastellfarben mit passender Deko, aber nicht für mein chaotisches Leben.
Alles andere als heldenhaft – Gottes Kandidat für die Rettung Israels
Ein Held des Alten Testaments hat allerdings genau so einen Spruch zu hören bekommen, und zwar direkt aus dem Munde Gottes. Es ist die Zeit der Richter. Landunter in Israel. Das Volk befindet sich in extremer Bedrängnis. Plünderungszüge der feindlichen Nachbarvölker machen den Israeliten schwer zu schaffen und verbreiten einen Psychoterror, der sie schwächt und lähmt. Die Kleinbauern müssen ständig um ihre Ernte bangen, versuchen, die Erzeugnisse ihrer harten Feldarbeit in Sicherheit zu bringen, immer wieder retten, was zu retten ist, um Brot auf den Tisch zu bekommen.
Ein junger Mann namens Gideon aus dem Stamm Manasse, dessen Vater einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb führt, ist gerade dabei, Weizen zu dreschen, um ihn vor den Feinden aus Midian in Sicherheit zu bringen. In besseren Zeiten hat das Vieh diese Arbeit draussen erledigt, Gideon macht es von Hand, im Schutz der Kelter – Hauptsache, nicht auffallen. Dann geschieht das Letzte, was er erwartet. Gott erscheint, beziehungsweise ein Engel Gottes mit einer Botschaft von Gott, was letztlich das Gleiche ist. «Der Herr ist mit dir, du tapferer Held!» (Richt. 6,12). Scherz? Ironie? Will Gott mit schmeichelnden Worten sein Selbstvertrauen aufpolieren? Natürlich nicht!
Das Entscheidende an den Worten des Engels ist nicht das Kompliment «du tapferer Held», sondern das, was davor steht: «Der Herr ist mit dir». An sich ist Gideon alles andere als ein tapferer Held, und das weiss er auch. Aber wenn Gott mit von der Partie ist und das Drehbuch in die Hand nimmt, dann ist auf einmal alles möglich. Dann kommt es nicht mehr auf unsere Kraft oder fehlende Kraft an.
Die Tiefe von Gideons Verbitterung und Frustration zeigt sich zunächst in seiner Reaktion auf den Gruss des Engels: «Bitte, mein Herr, wenn der Herr mit uns ist, warum hat uns denn das alles getroffen? Und wo sind all seine Wunder, von denen uns unsere Väter erzählt haben ... Jetzt aber hat uns der Herr verworfen und uns in die Hand Midians gegeben ...» (Richt. 6,13).
Gerade in diesen Worten finden wir einen wichtigen Grund, warum Gott diesen schwachen Mann so mächtig gebrauchen kann.
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