Gerne eingefordert, nicht so gerne geschenkt
Nicola Vollkommer
15. Februar 2023

«Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit» (Gal. 5,22) – so sieht die Frucht aus, die nach Gott schmeckt. Wer von uns schätzt nicht diese Eigenschaften in Menschen, mit denen wir eng zusammenleben und arbeiten – in der Familie, in der Gemeinde, bei der Arbeit? Und wer von uns sehnt sich nicht danach, selbst so ein Mensch zu sein?

Ich war tief schockiert, als ich den Brief las. Eine Frau, mit der ich immer wieder gerne zusammen war und als Freundin betrachtete, unterstellte mir Treulosigkeit. In den Anfangsmonaten unserer Bekanntschaft verstanden wir uns auf Anhieb. Wir hatten den gleichen Humor, Kinder im selben Alter, interessierten uns für die gleichen Dinge. Sie und ihr Mann hatten sich unserer Gemeinde angeschlossen und brachten sich mit Freude in verschiedene Aufgaben ein. Aber nach und nach bekam ich ein ungutes Bauchgefühl.

Mit einem strahlenden Gesicht holte sie eines Tages eine kleine Liste von irgendwoher und erzählte mir (ganz lieb und freundlich – klar), welche Mängel sie im Gemeindeleben erkannte, die ich den Ältesten vorbringen soll. Auf charmante Art und Weise belehrte sie mich immer energischer, was sich in der Gemeinde ändern müsste, welche Beschlüsse die Gemeindeleitung hier oder dort treffen sollte, welche Mitglieder mehr Einfluss haben sollten (komischerweise waren es immer ihre engsten Freunde).

Nach jeder Begegnung fühlte ich mich zunehmend bedrückt und manipuliert. Ich wies sie auf das Problem hin. Sie war empört: «Aber wir sind doch Freundinnen, und Freundinnen erzählen sich alles! Ich will nur ehrlich mit dir sein, ich bin doch immer mit meinen Freundinnen ehrlich!» Ob ich auch mit ihr ehrlich sein dürfte, fragte ich. Jetzt war sie nicht mehr nur empört, sondern tief verletzt. Aber sie würde mir vergeben, beteuerte sie. Ich war nie schlagfertig genug, um die richtige Antwort zu finden. Sie spielte sich zunehmend als Opfer auf und klagte mich an, niemals wäre eine Freundin mit ihr so treulos umgegangen wie ich. Ich musste die Beziehung schliesslich beenden und sie bitten, mich nicht mehr mit Vorwürfen zu überfluten. Bis heute beklagt sie sich kopfschüttelnd, dass noch nie jemand sie so behandelt hätte.

Auf schmerzhafte Weise musste ich erleben, was Treue nicht bedeutet. Dass ich den manipulativen Forderungen eines Narzissten bedingungslos ausgeliefert bin, hat mit dieser Frucht des Geistes nichts zu tun.

Was die Bibel Treue nennt

Biblische Treue ist auf verschiedenen Ebenen unendlich segensreich. Sie ist eng verknüpft mit den Eigenschaften der anderen Frucht des Geistes, die «Liebe» heisst. Auch Treue hat wenig mit emotionalen Sympathien zu tun, sondern unterliegt einer Rangordnung von Verpflichtungen, die im Wort Gottes klar vorgeschrieben ist. Ich bin meinem Ehemann treu, nicht nur, weil ich ihn mag, sondern weil ich am Tag unserer Hochzeit ein ernstes Versprechen abgelegt habe und einen Bund der Treue mit ihm schloss, in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm zu stehen. Ich bin meiner Familie treu, weil es meine erste Verpflichtung ist, für sie da zu sein, wenn sie mich brauchen – ob es mir Spass macht oder nicht. «Wenn aber jemand für die Seinen und besonders für die Hausgenossen nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet und ist schlechter als ein Ungläubiger» (1. Tim. 5,8).

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 03/2023