Unsere Haltung zur Toleranz wurde ganz wesentlich durch Lessings «Ringparabel» zur Frage nach der wahren Religion geprägt. Sind im Kern alle Religionen gleich? Und – was ist eigentlich Toleranz?
Jürgen Spiess
12. November 2016

Nach Lessing haben alle Religionen einen gemeinsamen Kern. Dieser Kern ist die tätige Liebe. Streitobjekt in der Ringparabel aus Lessings Stück «Nathan der Weise» sind drei Ringe, bei denen man nicht mehr feststellen kann, welcher der echte Ring ist. In dieser Parabel erben drei Brüder einen Ring; die drei Ringe sehen alle gleich aus, aber nur einer ist echt. Es stellt sich schliesslich auch heraus, dass es unbedeutend ist, welcher Ring der echte ist. Der Kern der drei Religionen Christen­tum, Judentum und Islam ist tätige Liebe. Man kann in der Liebe tätig sein, egal, ob der Ring, den man trägt (bzw. die Religion, an die man glaubt), echt ist oder nicht. Man braucht ihn dazu nicht. Dieses Bild von den drei Ringen hat viele Zuschauer und Leser bis heute überzeugt.


Ring oder Seil?

Alle Bilder haben eine grosse Suggestivkraft und nehmen einen Teil der Antwort vorweg. Das gilt auch für Lessings Bild von den Ringen. Hätte Lessing ein biblisches Bild genommen, dann sähe der logische Schluss der Parabel anders aus. Hätte er stattdessen zum Beispiel das Bild eines Seils gewählt, verliefe die Diskussion erheblich anders. Nehmen wir einmal an, drei Leute wollen einen Berg besteigen und brauchen dazu ein Seil. Sie haben drei Seile zur Auswahl, aber nur eines ist ein echtes, strapazierfähiges Kletterseil. Fadenscheinige Seile nützen dann nichts. Von der Frage, welches Seil das echte, tragfähige ist, hängt beim Bergsteiger das Leben ab.

So leichtfertig kann man mit der Wahrheitsfrage im religiösen Bereich nur umgehen, wenn man glaubt, dass nichts davon abhängt. Dann kann man auch sagen: Egal, welcher Ring der richtige ist, ich bin tätig in der Liebe; das ist es ja, worauf es ankommt, und da ist die Frage nach dem Ring oder der wahren Religion eigentlich unwesentlich.

Wenn man aber das Beispiel des Seils wählen würde, dann wüsste man: Von der richtigen Wahl hängt alles ab. Wenn es zwei falsche Seile gibt, könnte mich mein Freund irrtümlich mit einem schnell zerreissbaren Seil sichern wollen.

Im Hebräischen heisst «glauben», dass man etwas als fest, als zuverlässig akzeptiert und sich darauf verlässt. Nur dann werden wir Bestand gewinnen. Der Mensch hat sich ja nicht selbst geschaffen und ist deshalb darauf angewiesen, dass er sich irgendwo festmacht. Das Leben liegt nicht in uns selbst, wir haben es nicht hervorgebracht, auch nicht unser eigenes Leben. Wir sind geschaffen worden. Und durch den Sündenfall haben wir uns vom Ursprung des Lebens getrennt. Deshalb liegt für uns alles daran, dass wir uns wieder am Leben festmachen, um selber bestehen zu können und Bestand zu haben.


Was ist eigentlich Toleranz?

Von Toleranz zu reden hat nur in Gewissensfragen Sinn, aber nicht in Wissensfragen. Diese beiden Dinge werden häufig vermischt. Toleranz kommt vom Lateinischen «tolerare», etwas erdulden. Toleranz bedeutet ursprünglich, dass man eine Last trägt, indem man einen anderen toleriert, ihn annimmt trotz unterschiedlicher Meinung.

In Gewissensfragen ist Toleranz wichtig. Sie bedeutet, dass man die Person achtet, obwohl man anderer Meinung ist. Aber in Wissensfragen ist Toleranz unsinnig. Nehmen wir an, jemand glaubt, zwei und drei seien sechs. Dann wäre es nicht unbedingt ein Zeichen von Toleranz, wenn man ihn Häuser und Brücken bauen liesse, weil die Sache aufgrund seiner Berechnungen wahrscheinlich ziemlich übel ausgehen würde. Und was heisst Toleranz, wenn jemand sagt: «Ich muss in die Hauptstadt Russlands» und sich ein Ticket nach Kiew kauft? Soll man ihn auf den Irrtum aufmerksam machen? Er wird es ja schliesslich bei der Ankunft schon merken, dass er nicht dort angekommen ist, wo er hinwollte.

Goethe hat gesagt, Toleranz dieser Art heisse, dass man den Menschen nicht ernst nehme. In der Sache, in Wissensfragen ist Toleranz unsinnig. «Zwei und drei sind fünf» – was heisst da Toleranz? Kiew ist nicht die Hauptstadt Russlands.

Auch ein Staat kann nicht in allen Punkten tolerant sein, zum Beispiel in der Frage der Gewalt, die gegen Menschen ausgeübt wird. Er muss seine Bürger gegen Gewalt schützen, notfalls mit Gewalt. Da gibt es eine Grenze der Toleranz.

Im Zusammenhang mit dem angloindischen Schriftsteller Salman Rushdie wurde seinerzeit eine wichtige Debatte in der europäischen Presse geführt. In England hatte jemand in einem Buch behauptet, wer nach islamischem Recht Blasphemie begehe, sei auch in England des Todes schuldig. Der Westen müsse das islamische Recht respektieren. Der Westen sage doch immer, er sei multikulturell. Dann müsse er auch diese Kultur respektieren. Dem steht entgegen, dass im Gegensatz zu vielen arabischen Ländern in Europa die Meinungsfreiheit für ein so hohes Menschenrecht angesehen wird, dass es über das Recht der Tötung wegen Blasphemie im Islam geht.

Wir sagen eben nicht: Alle Kulturen sind gleich und alle haben die gleiche Berechtigung. Das glaubt kein Mensch.

(Artikelauszug aus ethos 11/2016)