Früher war die Gebärdensprache verpönt, Gehörlose wurden oft geschlagen, ausgelacht und für dumm gehalten. Das hinterliess tiefe Wunden in ihren Seelen. Tommaso ist von Geburt an schwerhörig. Warum er sich trotzdem am Leben und an der Gemeinschaft mit anderen freuen kann und wie es heute medizinisch mehr Möglichkeiten für Gehörlose gibt, erzählt er im Interview.
Interview: Daniela Wagner
26. September 2024

Unser Gespräch findet auf einer Freizeit statt, die eure Gehörlosengemeinde (CGG Stuttgart) jedes Jahr organisiert. – Herzlichen Dank für die Einladung!

Tommaso Tonon: Schön, dass ihr hier seid! Wir sind eine Gruppe von Hörenden, Schwerhörigen, Gehörlosen, mehrfach Behinderten und auch Taubblinden aus ganz verschiedenen christlichen Gemeinden und Ländern (D, Schweiz, AT, Ukraine). Diese ungezwungene, schöne Gemeinschaft trotz mancher Kommunikationsbarrieren ist für uns alle hier eine ganz grosse Freude!

Ich stelle mir die Gemeinschaft mit Menschen wie den Taubblinden nicht gerade einfach vor. Wie kann das gelingen?

Ja, es ist natürlich herausfordernd. Die Taubblinden geniessen es ganz besonders, unter uns zu sein. Ihr Alltag ist schwierig, sie sind oft «allein».

Die Welt eines Gehörlosen geht so weit, wie er sehen kann. Die eines Taubblinden reicht gerade so weit wie sein Arm. Kommunikation findet über Körperkontakt statt. Sie brauchen eine «hautnahe» Begleitung durch taktile Gebärdensprache oder mittels der Lorm-Sprache (in die Hand schreiben).

Man darf nie vergessen, dass nichts sehen und nichts hören nicht bedeutet, dass jemand dumm ist. In jedem Menschen steckt so viel Potenzial!

Die Gemeinschaft ist für uns alle sehr wertvoll, da wir über grosse Distanzen «verstreut» wohnen. So geniessen wir das Zusammensein sehr, vertiefen Freundschaften und lernen «neue» Teilnehmer kennen. Die Freizeiten sind immer ein grosser Segen. Trotz der modernen Technik, die es heute ermöglicht, unsere Kontakte über grosse Entfernungen per Videotelefonie zu pflegen (für diese Errungenschaft sind wir natürlich sehr dankbar), wird das Wiedersehen nach wie vor besonders herbeigesehnt.

Erzähl uns doch deine Geschichte! Du bist schwerhörig ...

Zu Beginn möchte ich betonen: Gott wollte mich und ich freue mich darüber!

Ich bin schwerhörig und mit einer Gaumenspalte auf die Welt gekommen. Es muss eine schwere Geburt gewesen sein. Meine Mutter bemerkte schon früh, dass mit mir etwas nicht stimmte. Soweit ich weiss, brauchte ich länger, bis ich gehen konnte, und dann kam die Schwierigkeit, dass mit meinem Gehör etwas nicht in Ordnung war. Ich reagierte kaum, verzögert oder gab falsche Antworten, wenn ich angesprochen wurde.

Wie muss ich mir deine Schwerhörigkeit vorstellen? Was hörst du? Ich bin erstaunt, wie «gut» wir uns doch verständigen können. Du kommst mir vor wie ein Hörender ...

Das täuscht. Wichtig ist, dass du mir gegenübersitzt, die Lichtverhältnisse gut sind und dein Gesicht nicht im Dunkeln liegt, damit ich deinen Mund sehen kann.

Ich höre Töne, aber stark vermindert. In jungen Jahren, bis ich 35–40 Jahre alt war, konnte ich in der Kommunikation unter «Hörenden» noch gut mithalten. Nach zwei von insgesamt drei Hörstürzen verschlechterte sich das so sehr, dass mir die Gespräche mit Hörenden immer schwerer fielen. Bestimmte Buchstaben und Laute konnte ich von Anfang an nicht hören, zum Beispiel SCH. So wurde ich früher von den Kindern gehänselt und ausgelacht, weil ich beispielsweise «Hubrauber» statt «Hubschrauber» sagte.

Einfach lauter zu sprechen, hilft nicht wirklich. Es sind die Töne und Laute, die ich weder selbst höre noch bei anderen hören kann. Deine Bemerkung «Du kommst mir vor wie ein Hörender» erinnert mich an frühere Begebenheiten, wo ich als Schwerhöriger in dieser Hinsicht gelitten habe: Zum Beispiel wurde mir vorgeworfen, «nur das zu hören, was ich hören will», oder: «Du weisst ganz genau, was wir gesagt haben, tu nicht so, als ob du es nicht gehört hättest.»

Wie lernt man dennoch so gut zu sprechen, zu artikulieren?

Ein Kind lernt zuerst über das Gehör und baut so seinen Wortschatz auf. Wenn es aber nicht oder schlecht hört, kann es auch nicht sprechen und sich artikulieren. Deshalb ist es entscheidend, wie die Eltern damit umgehen. Sie spielen die erste wichtige Rolle: Vorlesen von Bilderbüchern oder Heften, Förderung durch Logopädie, gemeinsames Üben vor dem Spiegel und auch ein bisschen Gebärdensprache. Ich glaube, bei mir kam die Förderung erst, als ich in die Schule kam.

Mit «vom Mund ablesen» und dem, was ich noch hören konnte, kam ich ganz gut zurecht. Da ich der einzige Hörgeschädigte in meiner Familie und Verwandtschaft war, sprachen weder meine Bezugspersonen noch ich die Gebärdensprache, die ich erst durch ein besonderes Ereignis als Erwachsener erlernte.

Meine Eltern waren damals verständlicherweise völlig überfordert. Das ist kein Vergleich zu heute, wo man viel Unterstützung bekommt. Sie bemühten sich, etwas zu finden, wo ich gefördert werden konnte, und so kam ich in ein Internat für Gehörlose und Schwerhörige.

Sprechen lernen ist mit «Arbeit» verbunden, Hörbehinderte müssen bereit sein, Opfer zu bringen, zu pauken, zu lernen. Begabung und Intelligenz spielen auch eine Rolle.

Früher war die Gebärdensprache verpönt (man nannte sie «Affensprache») und verboten, sodass die Gehörlosen gezwungen waren, vom Mund abzulesen. Das ist eine sehr anstrengende und anspruchsvolle Kopfarbeit. Wenn Gehörlose sich falsch artikulierten, ihre Aussprache schlecht war oder sie das Gesagte nicht verstanden, wurden sie oft geschlagen, ausgelacht und für dumm gehalten. Das hinterliess tiefe Wunden in ihrer Seele. Es sind einige Teilnehmer hier, die das in ihrer Kindheit erlebt und unsägliches Leid erfahren haben.

Vieles hat sich geändert, die Gebärdensprache wird heute akzeptiert und gefördert und auch politisch gibt es Bestrebungen, Gehörlose besser zu integrieren und ihnen in den verschiedensten Lebensbereichen möglichst den gleichen Zugang wie Hörenden zu ermöglichen. Erwähnenswert: Seit es Handys mit Videotelefonie gibt, werden diese von Gehörlosen rege und gerne genutzt, es ist wie Telefonieren unter Hörenden. Auch das ist eine Form der Integration.
Inzwischen gibt es auch medizinische Möglichkeiten: Zum Beispiel in einer Operation ein Cochlea-Implantat (CI) einzusetzen. Damit hört man recht gut.

Zurück zu deiner Lebensgeschichte ...

Meine Mutter trennte sich von ihrem ersten Mann, meinem Papa, als ich zwei Jahre alt war. Sie war insgesamt dreimal verheiratet, nicht gerade ideale Verhältnisse.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 10/2024