In dem Mädcheninternat, in dem ich sechs Jahre meiner Jugend verbrachte, bekamen wir Noten für unsere Tischkultur. Es fing mit unserer Körperhaltung an. Kerzengerade sitzen. Keine Ellbogen auf dem Tisch. Dann unser Erscheinungsbild: gekämmte, in Zöpfen gebundene Haare, Strickjacke zugeknöpft. Danach das Verhalten: Höflicher «Smalltalk» mit den Lehrerinnen, die in unseren Sitzreihen verstreut sassen. Aktuelle Weltereignisse intelligent kommentieren. Dabei den Blick für die Tischnachbarinnen nicht verlieren: Wer braucht Butter? Bleibt der Brotkorb in Bewegung, damit alle was bekommen? Ist der Salzstreuer bis zum Tischende gekommen? Sind alle am Gespräch beteiligt, auch die Schüchternen? Warten, bis alle fertig sind, bevor die Teller zusammengestellt werden. Den Tisch erst nach dem Schlussgebet verlassen.
Bei Mahlzeiten wurde für das Leben gelernt. Kompetenzen, die uns langfristig vermutlich mehr brachten als erfolgreich gelöste Prozentaufgaben und Konjugationen von lateinischen Verben.
Ich bin froh, dass Gott uns keine Noten für unser Verhalten gibt. Mit den Worten Jesu am Kreuz «Es ist vollbracht!» setzte Gott ein und für alle Mal einen Schlussstrich unter alle geistlichen Punktesysteme. Nichts kann diesem siegreichen Ruf aus dem Mund des sterbenden Messias hinzugefügt werden. Da ist Gottes Wort klar. Jesus selber hat an unserer Stelle die Prüfung bestanden, die wir unmöglich bestehen konnten. Dieses Wissen gehört zum ABC der Heilstheologie.
Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte. Für unser Leben hier auf Erden und unser Zeugnis als Christen ist unser Verhalten entscheidend. Wer das Kreuz begriffen hat, bleibt nicht derselbe. Glaube ohne Werke ist tot, schreibt Jakobus (2,17). Eine Bekehrung, die mich unverändert lässt, war keine Bekehrung. Deshalb sind die Reden Jesu voll mit klaren Direktiven – nicht, weil der Mensch sein Heil durch eigene Anstrengungen erlangen kann. Sondern weil der Mensch, der dieses Heil schon erlangt hat, aus der Kraft Gottes so leben soll, dass diese Rettung sichtbar wird. Heiligung ist Gnade, die Hände, Füsse und eine Stimme bekommt.
Es soll uns nicht wundern, dass Tischgesellschaften Schauplätze für manche von Jesu unvergesslichsten Gleichnissen waren. Vor allem jüdische Hochzeiten waren für Verhaltensanalytiker ein gefundenes Fressen, dauerten sie immerhin einige Tage an – ein regelrechtes Schaulaufen aller klassischen Heuchler und Möchtegerns. Jesu Karikaturen gingen unter die Haut, trieben seine damaligen Gegner zur Weissglut, stellen Leser auch heute vor einen peinlichen Spiegel.
Hier ein paar Kostproben aus alt-jüdischen Hochzeitsgesellschaften, die in den Gleichnissen von Jesus auftauchen.
Der selbstüberzeugte Gast: «Bühne frei, ich komme!
«Wenn du von jemandem zur Hochzeit eingeladen wirst, so lege dich nicht auf den ersten Platz, damit nicht etwa ein Geehrterer als du von ihm eingeladen sei und der, welcher dich und ihn eingeladen hat, komme und zu dir spreche: Mach diesem Platz! Und dann wirst du anfangen, mit Schande den letzten Platz einzunehmen. Sondern wenn du eingeladen bist, so geh hin und lege dich auf den letzten Platz, damit, wenn der, welcher dich eingeladen hat, kommt, er zu dir spricht: Freund, rücke höher hinauf! Dann wirst du Ehre haben vor allen, die mit dir zu Tisch liegen. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden» (Luk. 14,7–11).
Den Typen, der sich selber ganz wichtig nimmt, finden wir in verschiedenen Varianten in den Predigten Jesu (der Pharisäer, der sich als Profi-Beter ausgibt, der ältere Sohn im Gleichnis des verlorenen Sohnes, die fromme Elite, die als ein Friedhof voller weiss getünchter Gräber beschrieben wird). An folgenden oder ähnlichen Sätzen erkennt man so einen Hochzeitsgast:
«Warum werden meine überragenden Begabungen und hochkarätigen geistlichen Erkenntnisse hier nicht berücksichtigt?»
«Warum will niemand von meinen topaktuellen Eindrücken vom Herrn was wissen?»
«Schliesslich habe ich einen besonderen Draht zu Gott, nur zu dumm, dass die Gemeindeleitung zu fleischlich ist, um dies einzusehen. Wahrscheinlich sind sie nur neidisch.»
«Ich habe Theologie studiert ... war auf einer Bibelschule ... ich bin schon dreissig Jahre in dieser Gemeinde ... ich komme aus einer bekannten christlichen Familie ... ich verdiene viel Geld ... warum wird das hier nicht anerkannt?»
Dieser Mann will mit wichtigen Leuten gesehen werden, er mag die Nähe zur Bühne. Am liebsten taucht er dort auf, wo er im Mittelpunkt steht und mitbestimmen kann. Wenn ihm die Stirn geboten wird, klagt er über «Kontrollgeister» und mangelnde «Offenheit für den Heiligen Geist» oder über «defizitäre Bibelkenntnis», «Enge, Werkgerechtigkeit und fehlende Offenheit für Neues», «zu viel Gesetzlichkeit», je nach Konfession. Er gibt anderen Christen gerne das Gefühl, dass sie nicht geistlich genug sind. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, Splitter in den Augen der anderen zu suchen. Auf den dicken Balken im eigenen Auge ist er nicht gut zu sprechen. Er kann partout nicht begreifen, warum andere ihn und seine Meinung nicht toll finden und ihn stattdessen ans Ende des Tisches verbannen.
Als erfrischendes Kontrastprogramm gibt es den Gast, der von vornherein am unteren Ende der Hochzeitstafel Platz nimmt. Dieser hat ein paar wichtige Fragen im Vorfeld für sich geklärt. Zum Beispiel:
«Sinnt nicht auf hohe Dinge, sondern haltet euch zu den Niedrigen» (Röm. 12,16). «Lobe dich nicht selbst, lass das andere tun» (Spr. 27,2). «Bei den Bescheidenen ist Weisheit» (Spr. 11,2). «Den Demütigen gibt er Gnade» (Spr. 3,34).
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 07/2019.