Ein Mann, der bereit ist, grosse Herausforderungen im Namen des Glaubens anzupacken. Eine Geschichte von Gottes Möglichkeiten.
Interview: Daniela Wagner
23. März 2022

Sie sind in der DDR aufgewachsen. Wie haben Sie Ihr Elternhaus erlebt?

Werner Wigger: Meine Mutter war eine einfache, schlichte, aber tiefgläubige Frau. Sie landete als Kriegsflüchtling aus Westpreussen in Wismar, wo sie meinen Vater kennenlernte. Mein Vater war bei der Hochzeit ein traditioneller Christ, der damals auf kirchliche Trauung noch grossen Wert legte. Aber sehr bald gab er durch unguten Einfluss von Freunden nicht nur seinen Glauben auf, sondern wurde zu einem bissigen Spötter. Damit entstand ein permanentes Spannungsfeld in der Familie, das von klein auf mein Leben mitprägte. Der Vater kümmerte sich nicht um die Erziehung seiner drei Söhne. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich jemals Zeit nahm, seine Kinder danach zu fragen, was sie persönlich bewegt, was ihre Sorgen, Wünsche oder Ziele waren.

Dass es in einer Familie gemeinsame Urlaube gab, entdeckte ich erst als Jugendlicher bei Freunden, wenn ich sie zu Hause besuchte. Als Hilfsarbeiter hatte mein Vater ein sehr bescheidenes Einkommen. Meine Mutter hat ihr Leben lang für andere Leute geputzt, die ersten Jahre bei den damals noch selbstständigen Bauern in der Landwirtschaft mitgeholfen oder im Winter im Schichtdienst durch körperlich sehr schwere Arbeiten in der Zuckerfabrik zum Lebensunterhalt hinzuverdient. Es gab ständig Auseinandersetzungen, weil das Geld oft nicht bis zum Monatsende reichte. Wir hatten ein einfaches Leben. Ich bin in den ersten Jahren noch mit Lebensmittelmarken zum Einkaufen geschickt worden. Für uns Kinder hat unsere Mutter vieles selbst geschneidert, gestrickt und versucht, aus allem das Beste zu machen. Sie hat uns den persönlichen Glauben an Gott vorgelebt und die Ehrfurcht vor Gott und seinem Wort gelehrt. Wenn sie uns abends aus der Bibel vorlas, mit uns sang und betete, mussten wir die Zimmertür abschliessen, weil der Vater da oft versuchte, gezielt zu stören. Immer wieder einmal drehte er die Sicherung raus, sodass wir dann im Dunkeln sassen.

In der Erziehung führte die Mutter ein strenges Regiment, wobei sie bemüht war, bei uns Kindern primär durch Motivation ans Ziel zu kommen. Aber Gedankenaustausch über Weltanschauung und Politik fand eigentlich nicht statt, weil sie dem nicht gewachsen war. So etwas lernte ich erst in anderen Familien kennen. Auch wenn wir uns so vieles nicht leisten konnten und ein ärmliches Leben führten, hatten wir drei Jungs doch eine schöne Kindheit. Die Landeskirchliche Gemeinschaft war unser zweites Zuhause. Dort fanden wir gleichgesinnte Freunde, mit denen wir auch in der Freizeit viel unternehmen konnten. Aber da waren wir immer nur eine kleine Schar, so wie wir auch in der Gesellschaft immer in der Minderheit waren.

«Wigger, ich sorge dafür, dass Sie von der Schule fliegen!», drohte der Lehrer für Staatsbürgerkunde. Immer wieder wurden Sie als Christ gedemütigt,nicht etwa wegen schlechten Benehmens.

Wir drei Brüder hatten eigentlich keine Hemmungen und Skrupel, den anderen Kindern auf der Strasse unseren Glauben zu bekennen und sie zum Kindergottesdienst mitzuschleppen. Aber mit der Schulzeit begann für uns recht bald eine unausweichliche Auseinandersetzung mit der gezielt atheistischen Politik der Gesellschaft.

Die Reifung meiner Persönlichkeit war ein schmerzhafter Entwicklungsprozess, der durch anhaltende Diskriminierung und Verletzungen geprägt war. Als Kind bist du da völlig hilflos ausgeliefert und blossgestellt, wenn du auf Kommando der Lehrer vor die Klasse treten und dich von den Mitschülern wegen deines Glaubens verspotten lassen musst. Das macht was mit einem Kind. Bei mir hat es einen Trotz hervorgebracht, der sich wie ein schützender Abwehrpanzer um mich legte. Mit der Zeit wurde mir dann aber klar, dass ich mir durch Trotz meinen Glauben nicht bewahren kann, sondern Wege finden muss, mich gezielt mit solchem Erleben auseinanderzusetzen, ohne mich vor den anderen zu schämen und zu verstecken. Das gelingt nur, wenn man sich darüber klar wird, welchen Wert die persönliche Gottesbeziehung hat. So verletzend es anfangs auch war, die gezielte Verspottung hat letzten Endes bei mir gerade das Gegenteil bewirkt: Mein Glaube reifte und bekam Tiefgang, weil ich entdeckte, dass es keine wirkliche Alternative dazu gab. Mit 14 Jahren war ich dann so weit, dass ich mich bei meiner Konfirmation von ganzem Herzen für eine bewusste und verbindliche Nachfolge Jesu entschied.

Ich war bereits in der 11. Klasse, als der Klassenlehrer mich aufforderte, im Matheunterricht aufzustehen, um dann mit dem Finger auf mich zu deuten und vor der Klasse zu verkünden: «Sehen Sie sich diesen Wigger an, so sieht ein Staatsfeind aus.» Der Grund dafür war, dass ich mich als Einziger an der ganzen Schule weigerte, der politischen Organisation der «Deutsch-Sow-
jetischen-Freundschaft» beizutreten. Der Direktor hatte das Ziel vorgegeben, dass bis zu einem bestimmten Stichtag 100 Prozent der Schüler und Lehrer Mitglied in dieser Organisation zu sein haben.

Im Abschlusszeugnis der 11. Klasse lautete die Beurteilung: «Werner ist ein sehr ehrgeiziger, seinen persönlichen Zielen gegenüber pflichtbewusster und hilfsbereiter Schüler. Seine gut entwickelte Fähigkeit im Denken nutzt er gerade in politischen Fragen noch nicht ökonomisch genug aus. Sein Urteil gegenüber unserer Gesellschaftsordnung ist bisher nicht positiv genug ...»

Was war die Message des Staatsapparats, der Lehrer, des ganzen Systems? Welche Ziele wurden verfolgt und mit welchen Mitteln?

Die Message war ganz klar: Es gibt keinen Gott und Religion ist eine Erfindung der Ausbeuter, um das Volk zu beherrschen. Menschen, die an Gott glauben, sind rückschrittlich, einfältig und dumm und machen sich zu Gehilfen von reaktionären Kräften.

Von der Wiege bis zur Bahre war das Leben politisch systematisch durchorganisiert.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 04/2022