Auf dem Weg einer Gesellschaft in ein totalitäres System erscheint das eigentlich Ungeheuerliche zunehmend und schleichend als ganz normal und wird verhandelt wie ein beliebiges politisches Vorhaben.
Thomas Lachenmaier
19. Januar 2023

Weit verbreitete Ängste, Einsamkeit, das Gefühl der Isolation, Mangel an sozialen und familiären Bindungen – einen Mangel an Sinn und daraus resultierende Aggressionen – das sind psychische Voraussetzungen für die totalitäre Verwandlung einer Gesellschaft.

Der Feind der Wahrheit braucht den haltlosen Menschen, denn der Haltlose ist beherrschbar. Heute glaubt er dies, morgen das; heute hält er diese Anordnung für richtig, morgen die gegenteilige. Er glaubt dem, der das Sagen hat, egal, was stimmt. Das erste und grösste Ziel der Wahrheitsfeindlichen, der Korrupten und Korrumpierten ist, das Postulat zum Allgemeingut zu machen, niemand (ausser dem, der das Sagen hat) könne wissen, wie die Dinge wirklich sind, es gäbe keinen letzten Halt.

Die Nationalsozialisten, Mao und Stalin, die DDR-Granden: Sie alle wollten den Menschen so dumm gemacht und verunsichert sehen, dass sie sich ihm als die Garanten seines Wohlbefindens präsentieren konnten. Und ja, auch die International-Sozialisten der Gegenwart – die den Menschen gängeln, ihm medizinische Behandlung vorschreiben, die Verantwortung für die Kinder und für die Alten nehmen, ihn dirigieren, lenken, für das Konforme belohnen und das Abweichende bestrafen wollen – brauchen den entwurzelten Menschen. Sie führen in Ängste und trennen Menschen voneinander. Sie, die biblisch gesprochen daran leiden, dass sie von Gott los sind, sind anfällig für totalitäre Verführung. Der biblische Begriff «Verblendung» ist überaus präzise, denn Menschen ohne einen gültigen Massstab werden blind gemacht für die Wahrheit.

Schon Hannah Arendt beschrieb Fügungsbereitschaft als Folge von Kontaktlosigkeit und Entwurzelung als das Hauptmerkmal der Menschen einer Massengesellschaft.

Der französische Massenpsychologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Gustave Le Bon, nennt die bewusste Emotionalisierung der Massen mit suggestiven Mitteln den Schlüssel zu ihrer Lenkung. In falsche Ängste getrieben, mit falschen Hoffnungen gelockt, hinreichend mit Emotionen aufgeputscht (auch mit Hass auf jene, die mit der Angst assoziiert werden, den Andersdenkenden, den Feind) können Menschen manipuliert werden. Sie glauben dann auch das Vernunftwidrige, suchen Sicherheit und Geborgenheit in der falschen, der vermeintlichen Solidarität der gleichfalls Verführten. Biblisch gesprochen werden sie in Menschenfurcht geführt, um sie beherrschbar zu machen.

Die geschürte Angst und der Erlösung versprechende Gehorsam zugunsten einer heilen Zukunft sind der totalitäre Klammergriff, der die Menschen hält. Ist es nicht erstaunlich, dass sich heute kollektivistisches Denken durchsetzt, wo doch lustbetonter Individualismus das Mass der Dinge war? Aber die digitale Vereinzelung des Menschen und die Verunsicherung durch politische Massnahmen haben den Menschen von seinem Umfeld und von der realen Erfahrung getrennt. Sie haben ihn nicht individualisiert, sondern vereinzelt und damit massentauglich gemacht. Seine Identität verschwimmt im Kollektiv, welches vorgibt, was gut und was schlecht ist und wer zu hassen sei.

Totalitäre Eliten glauben an die Allmacht des Menschen

Der Mensch wird reif für die Einführung eines Sozialkreditsystems, das sein Verhalten mit Plus- und Minuspunkten lenkt, so wie wir es aus China kennen. Das deutsche Bildungsministerium empfiehlt die Einführung eines solchen Systems und bereits 20 Prozent der Deutschen sprechen sich dafür aus. In mehreren deutschen Städten wird schon heute eine Lightversion getestet (etwa in Wuppertal und Stuttgart), wie in einer Tageszeitung zu lesen ist.

Aber das eigentliche Ziel totalitärer Ideologie sei nicht einfach eine revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, schrieb Hannah Arendt vor 70 Jahren weitsichtig, sondern «die Transformation der menschlichen Natur selbst».

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 02/2023