Der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes veröffentlichte 1968 den Aufsatz «Der Tod des Autors». Darin forderte er auf, sich bei der Interpretation von Texten von der Autorität der Verfasser dieser Texte zu emanzipieren: Der Autor ist tot, und wir sind den Motiven und Zielen, die ihn bei der Arbeit geleitet haben, nicht mehr verpflichtet. Die Bedeutung eines Textes und der Sinn desselben werden nicht vom Autor gestiftet, sondern vom Leser erzeugt. Die nachfolgende Generation der Leser kann beliebig mit den Texten spielen, sie nach eigenem Gutdünken interpretieren und für andere Intentionen gebrauchen. Dieser Ansatz wurde bestimmend in der Literaturwissenschaft und in der Theologie. Ein grosses Beispiel dafür war das Buch «Atheistisch an Gott glauben» von Dorothee Sölle, das im selben Jahr erschien und in dem diese Emanzipation vom ursprünglichen Autor auch auf den Umgang mit der Bibel angewandt wurde.
Gott selbst teilt sich mir mit
Die Trennung des Textes vom Autor ist eine Ursache für die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber der Bibel. Uns ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass der eigentliche Autor der biblischen Bücher lebt. Die Bibel ist wertvoll und wirksam, weil hinter ihr der lebendige Gott steht, der sich durch dieses Wort persönlich bezeugt. Beim Lesen der Bibel geht es nicht um die Anleitung zu einer meditativen Selbsterfahrung, sondern um die Mitteilung einer von mir unabhängigen Persönlichkeit. Es geht um Offenbarung: Gott selbst teilt sich mir mit.
Die christliche Kirche geht traditionell davon aus, dass Gott uns mit der Bibel auf eine exklusive und autoritative Weise sein Wort gegeben hat. Dieser Stellenwert und Charakter der Bibel lässt sich aus den Selbstaussagen der 66 biblischen Schriften ableiten. Noch wesentlicher ist aber das «innere Zeugnis des Heiligen Geistes». Beim Lesen der Bibel begegnen Menschen dem göttlichen Autor und machen die einzigartige Erfahrung, dass sie – wie Jesus es in Johannes 10 ausdrückt – die Stimme des guten Hirten hören.
Der Umgang mit der Bibel ist nicht immer leicht
Trotz dieser Bestätigung ist der Umgang mit der Bibel nicht immer leicht. Aber weil der Autor der Bibel lebt, können wir uns beim Lesen der Bibel mit unserem Zweifel und unseren Verständnisschwierigkeiten an ihn wenden. So führt die Begegnung mit der Bibel in die Beziehung zu Gott und erfüllt damit ihre wichtigste Funktion. Die christliche Bewegung ist kein «Club der toten Dichter», sondern wir sind «Kinder des lebendigen Gottes». Ich wünsche uns im Umgang mit der Bibel, im Diskurs um ein angemessenes Schriftverständnis und in der Vermittlung der biblischen Botschaft an andere das Bewusstsein: Der Autor lebt!
Artikel aus ethos 06/2019.