«Plötzlich geschieht etwas, das sich wie ein Achsenbruch in dieser gleichmässig rotierenden Maschine des Lebens anhört.» Die Worte des Theologen Helmut Thielicke bringen auf den Punkt, was noch vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten hätte.
Yvonne Schwengeler
14. Mai 2020

In diesen Tagen gibt es ein alles beherrschendes Thema: Covid-19. Innert kürzester Zeit hat sich das Gesicht unserer Welt verändert. Eine durch stetig wachsenden Wohlstand, technischen Fortschritt und grenzenlose Mobilität geblendete Gesellschaft wähnte sich in Sicherheit und muss nun feststellen: Wir haben nichts, aber auch gar nichts im Griff!  

Im Gleichnis vom reichen Kornbauern spricht Jesus diese falsche Sicherheit an. Der Kornbauer hatte übervolle Scheunen und glaubte sich ob seiner Vorräte sicher. «Er sprach zu sich selbst: Du hast einen grossen Vorrat für viele Jahre; hab nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott» (Luk. 12,19–21).

Zwangsentschleunigung – eine Chance?

Es ist, als hielte die Welt den Atem an: Die Strassen sind gespenstisch leer, Maschinen in den Fabriken stehen still, die Leute verkriechen sich in ihre eigenen vier Wände, abgeschnitten von allen sozialen Kontakten. Gebannt sitzen sie vor dem Fernseher und verfolgen die entsetzlichen Bilder aus den Spitälern Mailands, wo die Schwerkranken bäuchlings an Beatmungsmaschinen liegen, sehen die Autos, die in kurzen Abständen die Leichen ins überfüllte Krematorium fahren.

Der Kontrollverlust über ein Virus zeigt uns auf unangenehme Art, wie fragil und zerbrechlich menschliches Dasein ist. Im Minutentakt erleben wir die Kehrseite der Globalisierung. Maximale Vernetzung führt zu maximaler Abhängigkeit. Lieferketten von Gütern werden unterbrochen. Patienten sorgen sich um den Nachschub von Medikamenten, da wir grosse Teile der Produktion von Arzneimitteln nach China ausgelagert haben. Es kommt zu Lieferengpässen. Ein kleines Virus, mit blossem Auge nicht erkennbar, bringt das öffentliche Leben zum Stillstand, wirft die ganze Welt aus der Bahn und stürzt die Menschen in Angst und Panik.

In dieser Zwangsentschleunigung liegt aber auch eine Chance, sich Fragen zu stellen, die man bis anhin erfolgreich verdrängt hat: Wozu lebe ich? Was gibt meinem Leben Sinn? Wohin gehe ich?

Vielleicht taucht beim einen oder andern die Frage auf: Meldet sich durch dieses Coronavirus vielleicht Gott zu Wort, um zur Umkehr zu rufen? Sein Wort wieder ernst zu nehmen und nach seinem Willen zu fragen?

Aber auch Christen, die in der Nachfolge Jesu leben, werden am Coronavirus sterben oder mit andern leidvollen Schicksalsschlägen konfrontiert.

Wenn die vielen Gebete nicht erhört werden, das ersehnte Wunder nicht eintrifft, um das wir so gefleht haben – dann taucht sie auf, die Frage unserer schlaflosen Nächte: Warum?

Die Frage ist schmerzlich und unausweichlich, aber auch völlig normal. Zu allen Zeiten haben Leidende damit gerungen.

Weshalb ist die Beantwortung dieser Frage so eminent wichtig für uns? – Wir fühlen uns wohl, wenn unser Leben berechenbar und sinnvoll ist. Es muss für alles eine logische Erklärung geben: Warum der Computer abstürzt, das Auto nicht anfährt oder weshalb wir krank werden. Das Gefühl, alles kontrollieren zu können und das Leben im Griff zu haben, gibt uns ein Stück weit Sicherheit. Es darf nicht am seidenen Faden eines launischen Schicksals hängen. Das ist unerträglich.

Und dann kommt ein einziges, unbeantwortetes «Warum?» und unsere Welt gerät aus den Fugen. Viele Lebensgeschichten sind auch Leidensgeschichten.

Da ist Max. Er hatte seine Jugendliebe geheiratet. Kaum brachte seine Frau ein kleines Mädchen zur Welt, erkrankte sie an Krebs. Als das Kind zwei Jahre alt war, starb die junge Mutter. Wo war Gott?

Auch Martin und Laura mussten sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Die Hiobsbotschaft traf sie völlig unvorbereitet: «Euer Bub ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen!» Am selben Morgen hatten sie den kleinen Tim im Gebet Gott anbefohlen. Wo war Gott? Warum lässt ein guter Gott all das Elend auf dieser Welt zu?

Tatsache ist: Der tiefste Grund für unser Fragen nach dem Warum ist, dass wir nicht mit dem Unerklärlichen leben können. Glück und Unglück liegen so nahe beisammen. In einer Sekunde kann sich ein ganzes Leben ändern. Warum lief Tim gerade in dem Augenblick über die Strasse, als der Lastwagenfahrer einen Moment abgelenkt war?

Vielen ist das Lied «Tears in Heaven» des Blues-Gitarristen Eric Clapton ein Begriff.

Er schrieb diesen Song nach einem persönlichen Schicksalsschlag. Sein vierjähriger Sohn spielte im 53. Stock eines New Yorker Hochhauses direkt am offenen Fenster. Für einen Moment, nur für einen kleinen Augenblick, passte das Kindermädchen nicht auf, und der Junge stürzte in die Tiefe. Er war sofort tot. Eric Clapton verarbeitete seine Trauer in diesem Lied: «Beyond the door there’s peace I’m sure. And I know there’ll be no more tears in heaven.» (Ganz sicher, hinter der Tür dort ist Frieden. Und ich weiss, im Himmel gibt es keine Tränen mehr.)

Der Theologe Helmut Thielicke schreibt darüber: «Plötzlich aber geschieht etwas, das sich wie ein Achsenbruch in dieser gleichmässig rotierenden Maschine des Lebens anhört. Wir stehen vor einem Widerspruch, mit dem wir nicht fertigwerden ... Sind wir nicht überall von solchen Rätseln umgeben, die einen schwer loslassen, wenn man sie einmal entdeckt hat? Warum überfällt uns gerade in den höchsten Augenblicken des Lebens plötzlich die Angst vor der Vergänglichkeit?» Wir wissen es alle: Eines Tages bricht der Tod auch bei uns ein, raubt uns Angehörige, Freunde, den Ehepartner. Wir fürchten diese Tatsachen, verdrängen sie.

Die Frage nach dem Leid

Die Frage, wie ein liebender Gott Leid zulassen kann, beschäftigt viele Menschen auf der Welt. Jede Generation stellt sie wieder neu. Unter dem Begriff Theodizee beschreibt sie den Versuch, die Vorstellung eines liebenden und allmächtigen Gottes mit dem Leid und den Grausamkeiten in der Welt in Einklang zu bringen.

Wenn es einen liebenden und allmächtigen Gott gibt, warum hilft er dann nicht? Kümmert ihn unser Leid nicht? Dann wäre er kein liebender Gott. Kann er nicht eingreifen? Dann wäre er nicht allmächtig. Die Theodizee-Frage stellt uns vor einen Widerspruch. Als Christen suchen wir nach Antworten in der Bibel.
Ein Blick in die Fernsehnachrichten genügt, um zu merken: Durch die Schöpfung geht ein Riss. Das Leid ist allgegenwärtig, manchmal selbst-, oft auch fremdverschuldet.

Die Bibel berichtet, dass der Zustand der Erde am Anfang der Schöpfung anders, gut war. Gott, Mensch, Tier und Natur lebten in Harmonie. Da war kein Streit, kein Krieg, da gab es keine Seuchen und keine Epidemien. Die ersten Menschen lebten ein perfektes Leben bis zu dem Tag, an dem sie sich entschieden, Gott den Rücken zu kehren. Seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist gestört. Der Mensch wurde sterblich, erlebt Krankheit und Tod. Alles ist der Vergänglichkeit unterworfen. Das tägliche Leben wird zur Last, ein Kampf ums Überleben. Auch das menschliche Herz krankt, wird zerfressen von Egoismus, Scham, Angst, Neid und Unzufriedenheit.

Niemand ist frei von diesen Dingen. Es ist uns sozusagen in die Wiege gelegt. Das Leid der Menschheit ist zurückzuführen auf den Menschen, der sich entschieden hat, die Regie für sein Leben selbst zu übernehmen.

Das darf uns aber nicht zu der Meinung führen, Leid sei grundsätzlich eine Strafe für die eigene Schuld. Viele Stellen in der Bibel machen deutlich, dass dem nicht so ist.

Oft leidet der Gottesfürchtige mehr als einer, der sich nicht um Gottes Gebote schert. Davon redet eindrücklich Asaph in Psalm 73. Aber er ging mit seinen Fragen zu Gott und erkannte, dass er nur eine Momentaufnahme der Gottlosen im Blickfeld hatte.

Die Bibel erklärt, weshalb das Leid in die Welt kam, und doch bleiben manche Fragen offen.

Unsere Hoffnung

Im Alten Testament wird verheissen, dass ein Retter kommen wird, der den Bruch zwischen Gott und Mensch heilen wird. In Jesus wurde dieses Wort erfüllt. Er starb am Kreuz und trug stellvertretend unsere Schuld. Durch den Glauben an dieses Opfer werden wir gerecht vor dem heiligen Gott. Das geschieht nicht automatisch, sondern braucht unsere bewusste Entscheidung, dieses Geschenk anzunehmen.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 05/2020.