Die Wahrheit bedarf nur weniger Worte
Wilhelm Busch († 1966)
20. März 2023

«Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.»
Lukas 23,39–43

Viele Menschen stellen sich unter einer Predigt etwas Langweiliges und Ermüdendes vor: «Das Beste an einer Predigt ist, wenn sie kurz ist», sagte mir einmal ein junger Mann.

Gut! Dann möchte ich von einer ganz besonderen Predigt erzählen, die nur eine halbe Minute dauerte. Der Prediger war nämlich kein Theologe, sondern ein Verbrecher. Seltsam war auch die Kanzel, von der die Predigt gehalten wurde. Das war ein Galgen oder so etwas Ähnliches: ein rohes Holzkreuz.

Doch nun muss ich die Geschichte der Reihe nach schildern: Als man Jesus, den Sohn Gottes, ans Kreuz schlug, wurden zwei Verbrecher mit ihm hingerichtet. Drei Kreuze ragten in den Himmel über der grausamen Richtstätte. Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Gerichteten. Da schrie auf einmal der Gehenkte auf der linken Seite nicht gegen seine Peiniger, sondern gegen den Gekreuzigten in der Mitte: «Bist du der Sohn Gottes, wie du offenbar behauptet hast, so hilf dir doch selbst und uns!»

Ich kann mir vorstellen, dass es für einen Moment ganz still wurde. Und in diese Stille hinein hörte man plötzlich seltsame Worte. Sie kamen aus dem Mund des Gehenkten zur Rechten. Diese Worte meine ich, wenn ich von der Halbminutenpredigt spreche. Wir finden diese Predigt vom Kreuz in Lukas 23,39–41. Sie besteht aus drei Teilen.

Der erste Teil heisst: «Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott?» Hinter diesem Satz verbirgt sich ein unerhörter Schrecken. Der Schrecken, dass Gott wirklich da ist. Und dass er ein unbestechlicher Richter ist. Man möchte über unsere Städte und Dörfer rufen: «Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott?» Das sollte man den leichtsinnigen Gottesverächtern sagen. Das müsste man den Lügnern, den Ehebrechern, den Unversöhnlichen, ja allen Menschen unserer Tage ins Gesicht sagen: «Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott?»

Der zweite Teil der seltsamen Predigt: «Wir sind mit Recht in dieser Verdammnis. Denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind.» Das ist ja unerhört! Ein Mann hat den Mut, zu sagen: «Ich bin vor Gott ein Sünder und habe sein Gericht verdient.»

Solche Menschen sind seltener als Wasser in der Wüste. Es ist bei uns üblich geworden, jede Sünde, auch die schlimmste, zu verharmlosen. Der Gottlose sagt: «Die Christen haben mich enttäuscht.» Der Ehebrecher sagt: «Meine Frau versteht mich nicht.» Der Betrüger erklärt: «Die Gesetze zwingen mich zum Betrug.» Die Streithähne entschuldigen sich: «Die anderen haben angefangen.» Und der Dieb ist «kleptomanisch veranlagt».

Was für eine Predigt, in der der Prediger damit beginnt: «Ich habe gesündigt!» Gott kann uns nicht helfen, solange wir uns nicht trauen, dasselbe zu tun!

Der dritte Teil lautet: «Dieser hat nichts Unrechtes getan» (Luk. 23,41). Mir ist, als sähe ich, wie der Schächer seine Finger zu krümmen versucht und auf Jesus zeigt, auf Jesus am Kreuz. Mit einem Wort sagt die Predigt das Wichtigste über Jesus: Er ist unschuldig, ein unfehlbares Lamm und doch gerichtet. Und jeder denkende Mensch muss weiter fragen: «Und warum hängt dieser Jesus am Kreuz?» Die Antwort ist das Evangelium, die Frohe Botschaft, die gute Nachricht: Er stirbt für meine Sünden. «Die Strafe lag auf ihm zu unserm Frieden und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden» (Jes. 53,5).

Wer diese seltsame Predigt hört, glaubt und erfasst, der hat seinen Fuss auf den Weg zum ewigen Heil gesetzt.

Artikel aus ethos 04/2023