Wenn Gott in unsere Not kommt.
Sabine Kähler
2. Dezember 2020

Willy zog den Mantel enger um sich und steckte die Hände tief in die Taschen. In den letzten Tagen war es klirrend kalt geworden, und eigentlich hätte er schon längst daheim in der behaglichen Wärme sein können – aber es zog ihn nicht nach Hause. Nicht, seitdem Lilli nicht mehr da war. Acht Monate war es nun schon her, seit sie gegangen war. Noch immer vermisste er sie schmerzlich, jeden Tag aufs Neue. Er war sich nicht sicher, ob sich dieser Zustand jemals ändern würde. Der Schmerz sass tief, und nach über fünfzig Jahren Ehe war das Leben ohne Lilli schwer für ihn. Die ersten Wochen hatte ihre Tochter Lea bei ihm verbracht, aber dann musste sie wieder zurück in das Krankenhaus, in dem sie als Hebamme arbeitete. Willy war immer mächtig stolz auf seine Tochter gewesen, und er hatte sich von Herzen gefreut, als sie ihnen erzählt hatte, dass sie in einem Missionskrankenhaus in Tansania arbeiten würde. Aber jetzt wo Lilli nicht mehr lebte, wäre es ihm doch viel lieber gewesen, Lea in seiner Nähe zu wissen. Heute Morgen hatte sie ihn angerufen.

«Mit wem wirst du heute Weihnachten feiern, Paps? Bist du bei einer Familie aus der Gemeinde eingeladen?»

«Nein, noch nicht», hatte er ihr lachend geantwortet, «aber das wird sicher noch kommen. Heute ist ja die Weihnachtsfeier in der Gemeinde und die Kinder haben ein Krippenspiel eingeübt, da werde ich alle treffen und mich wahrscheinlich vor Einladungen nicht retten können. Mach dir um mich mal keine Gedanken. Und überhaupt – Weihnachten ist doch ein Tag wie jeder andere, man weiss ja gar nicht genau, an welchem Tag Jesus geboren wurde. Wir machen immer so viel Aufhebens darum, aber ist das wirklich nötig? Vielleicht verbringe ich den Abend auch allein mit einem guten Buch oder so ...»

«Nichts da», hatte Lea energisch geantwortet, «nimm eine der Einladungen an, ich will nicht, dass du an so einem besonderen Abend allein daheimsitzt und Trübsal bläst.»

Ja, sie hatte recht. Insgeheim hatte er sich auch vorgenommen, Heiligabend nicht zu Hause zu verbringen. Er war sich eigentlich sicher, dass eine der Familien aus der Gemeinde ihn mit zu sich nehmen würde. Oft war er irgendwo zum Mittagessen eingeladen und verbrachte selten einen Sonntag ganz allein, wieso sollte es an einem solchen Tag wie heute anders sein?

Doch er hatte sich getäuscht. Fünf kleine Cellophantütchen mit selbstgebackenen Plätzchen hatte er bekommen, aber keine Einladung, den Weihnachtsabend in einer Familie zu verbringen. Gleich anschliessend war er zum Friedhof gegangen und eine Zeit lang vor Lillis Grab gestanden, aber davon wurde es auch nicht besser. Vom Gefühl der Einsamkeit durchdrungen war er dagestanden und hatte versucht, die Tränen zurückzuhalten. Schliesslich hatte er sich energisch umgewandt und war durch den Park gestapft; er wusste da eine Stelle, an der sich die Obdachlosen hin und wieder trafen. Wenn er selbst nicht eingeladen war, dann könnte er vielleicht jemanden zu sich nach Hause einladen und selbst Gastgeber sein? Der Gedanke gefiel ihm, er schritt zügig voran.

Tatsächlich sah er schon von weitem eine Person auf der Parkbank liegen. Sein Puls beschleunigte sich. Eigentlich war er kein Freund von spontanen Aktionen, aber das hier fühlte sich trotz allem richtig an. Vorsichtig trat er an die Bank heran, die Person schien zu schlafen.

«Hallo?» Keine Reaktion.

«Hallo!» Willy trat noch näher heran. Der Mann regte sich, setzte sich auf und schaute ihn aus glasigen Augen an.

«Entschuldigung», Willy lächelte den noch jungen Mann unsicher an, «ich wollte Sie fragen, wo Sie heute Abend sein werden. Also ich meine», er stotterte, «ich meine, Sie könnten zu mir nach Hause kommen und wir könnten gemeinsam Weihnachten ...»

«Verpiss dich, Alter», knurrte der junge Mann unfreundlich.

Willy wich zurück. «Oh, ich ... ich wollte doch nur ...», er stotterte wieder.

«Was denn? Meinst du, ich habe keine Freunde, bei denen ich heute Abend sein werde?» Ärgerlich wedelte der Mann mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, seine Stimme war laut und barsch. «Hau ab, ja? Lass mich in Ruhe, Spiesser.»

Entsetzt machte Willy einige Schritte rückwärts, wendete sich dann ab und ging mit schnellem Schritt davon. Er atmete ein paar Mal tief durch. Sowas war ihm ja noch nie passiert. Was für eine Unverschämtheit, wo er doch einfach nur freundlich sein wollte! Nun also doch alleine nach Hause; er würde keinen neuen Versuch mehr wagen, einen Menschen zu sich einzuladen. Nicht heute.

Willy betrat den Hausflur und hängte seinen Mantel an die Garderobe. Er war aufgewühlt und immer noch ein bisschen ärgerlich wegen dem Mann im Park. Vor allem aber fühlte er eine grosse Traurigkeit in sich. «Nun reiss dich mal zusammen», mahnte er sich selbst, «es ist ein Tag wie jeder andere, und du hast schon viele Abende allein verbracht. Also stell dich nicht so an.»

Es nützte nichts. Er fühlte sich schlecht, und das Selbstmitleid überspülte ihn wie früher die Wellen am Strand, wenn sie an der Nordsee Urlaub gemacht hatten.

Willy kochte sich einen Tee, räumte ein bisschen auf, richtete einen Teller mit dem Weihnachtsgebäck und versuchte sich mit der Tageszeitung abzulenken. Aber innerlich war er unruhig, seine Gedanken kreisten ständig um die Tatsache, dass er nun wohl das erste Mal in seinem Leben den Weihnachtsabend allein verbringen würde.

Schliesslich liess Willy sich auf seinen Sessel sinken und schloss die Augen.

«Herr Jesus», betete er, «ich weiss, dass dieses Datum deiner Geburt willkürlich festgelegt wurde und dies eigentlich ein normaler Tag ist – aber ich fühle mich so einsam. Alle feiern in Gemeinschaft, und ich sitze hier allein, ohne Lilli. Und Lea ist so weit weg. Herr, hast du nicht gesagt, du wirst meinen Mangel ausfüllen? Hast du nicht gesagt, dass du jeden Tag bei mir bist? Gerade jetzt merke ich nichts von deiner Gegenwart, mein Herz ist schwer.» Jetzt kamen ihm doch die Tränen, ärgerlich wischte er sie weg. «Herr, ich brauche deinen Trost, bitte berühre du mein Herz.»

Ganz still und gedankenversunken sass Willy da, dann griff er nach seiner Bibel, die gleich neben dem Sessel auf dem kleinen Tischchen lag. Er schlug das Buch auf und las die Worte, die er schon so gut kannte: von der Liebe Gottes zu den Menschen und von seinem Sohn Jesus, den Gott zur Erde sandte, um uns Erlösung zu bringen. Er las von der Vergebung, die Jesus schenken möchte, und davon, dass es möglich war, ein Kind Gottes zu sein. Langsam tropften die Wahrheiten in sein Herz, füllten seine Gedanken und drängten die Traurigkeit zurück. Wie Lichter an einem dunklen Ort leuchteten die Worte, die Gott hier zu ihm sprach. Erneut schloss er die Augen, tiefe Dankbarkeit erfüllte sein Herz.

«Danke Herr, dass ich dein Kind sein darf. Gibt es etwas Wichtigeres auf dieser Erde, als ein Kind Gottes zu sein? Danke, dass du mir meine Schuld vergeben hast, ich bin so dankbar für deine Gnade. Danke, dass du als Mensch auf diese Erde kamst. Herr, was wäre ich ohne dich?» Wie Perlen auf eine Kette reihte er einen Dank an den anderen. Immer wieder Neues fiel ihm ein, und sein Herz wurde nach und nach von einem tiefen Frieden erfüllt. Wieder kamen ihm die Tränen, dieses Mal aus Dankbarkeit. Er konnte sich an seinem Heiland freuen, auch wenn er ganz allein hier in seinem Sessel sass, und er fühlte, dass in seinem Herzen einmal mehr Weihnachten geworden war. Er war nicht allein; zu keinem Zeitpunkt seines Lebens, auch nicht heute Abend. Die Geborgenheit Gottes umhüllte ihn wie ein warmer Mantel, und sein Innerstes kam zur Ruhe.

Die Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Willy schrak zusammen. Wer konnte das sein? Schwerfällig stand er auf und ging zur Tür ...

Lesen Sie die ganze Geschichte in ethos 12/2020.