Johanna war gegangen. Noch lange schaute er ihr nach. Es hatte zu schneien begonnen und Johannas Fussspuren waren kaum noch erkennbar ...
Gaby Eder
14. Dezember 2018

Der Mann schlägt die Tageszeitung auf. «Betrüger auf frischer Tat ertappt», steht da gross gedruckt als Schlagzeile. Ein schmerzlicher Zug umspielt seine Lippen, als er den jungen Mann auf dem Foto erkennt.

«Halte dich von ihm fern, sonst wirst du unglücklich!», so hatte er damals seine Tochter gewarnt. Doch sie war den Worten des Vaters gegenüber taub gewesen. So lange ist das schon her!

«Wie schnell die Zeit vergeht», murmelt er und schaut nachdenklich auf das gerahmte Bild auf der Kommode, das seine Frau und ihn zeigt, mit der Tochter in der Mitte. Sie waren beide nicht mehr jung gewesen und hatten sich schon mit ihrer Kinderlosigkeit abgefunden. Doch dann das schier Unglaubliche, die Schwangerschaft seiner Frau! Dieses Wunder wurde Monate später mit der Geburt eines gesunden Kindes gekrönt. Deshalb gaben sie ihrer Tochter den Namen Johanna: «Gott ist gnädig».

Gestern hatte er in dem abgegriffenen Familienalbum geblättert. Das tat er immer, wenn ihn seine Wehmutstage überkamen. Und gestern war einer dieser Tage – der Todestag seiner geliebten Frau, die vor drei Jahren für immer von ihm gegangen war.

«Pass auf Johanna auf, wenn ich nicht mehr da bin!» Das waren ihre Worte, als sie im Krankenhaus die alles verändernde Diagnose erhalten hatte.

Der Mann wischt sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn und seufzt – nur eine kurze Zeit war ihnen danach noch vergönnt gewesen und dann, drei Wochen vor Weihnachten, holte sie der Herr heim.

Auch der Heilige Abend in diesem Jahr wird ein Wehmutstag für ihn werden ... Er schliesst die Augen und denkt sehnsuchtsvoll an die gemeinsame Zeit mit Frau und Tochter zurück. In den Gottesdiensten sass Johanna als Kleinkind gern auf seinen Knien, zupfte ihn neckend am Bart oder blätterte auf dem Schoss der Mutter in der bunten Kinderbibel. Schon früh hatte Johanna Jesus lieb gewonnen und ging später gerne mit den anderen Kindern in die Sonntagsschule.

In Gedanken versunken streicht der Mann das Tischtuch glatt und lächelt plötzlich. Ein Foto kommt ihm in den Sinn, das er gestern im Album lange betrachtet hatte: die kleine Johanna als Hirte im Weihnachtsgottesdienst! «Mit den Hirten will ich gehen, meinen Heiland zu besehen ...» Inbrünstig hatte sie damals mit den anderen Kindern dieses Lied gesungen.

Die Jahre waren wie im Flug vergangen! Aus dem Kind war bald ein junges Mädchen geworden, das zur Freude der Eltern einer christlichen Jugendgruppe beigetreten war, Gitarre spielte und mit Begeisterung im Chor mitsang.

Doch kurz nachdem die Mutter krank geworden war, veränderte sich Johanna plötzlich. Bis dahin eine gute Studentin, wurden ihre Leistungen zusehends schlechter.

Sie hatte angefangen, mit Gott zu hadern, machte ihn für die Krankheit ihrer Mutter verantwortlich und ging aus Protest nicht mehr in die Kirche.

Ihren Vater nahm die Pflege der kranken Frau sehr in Anspruch und in einer gewissen Art von Hilflosigkeit fehlten ihm wohl auch oft die richtigen Worte für die Tochter. Ratschläge und Bibelworte erzielten in der damaligen Situation bei Johanna nur eine Wirkung: «Bitte, hör auf mit diesen Kalendersprüchen!»

Im Krankenzimmer war sie jedoch wie ausgewechselt, sprach mit der immer schwächer werdenden Mutter liebevoll und freundlich, las ihr geduldig vor und umsorgte sie. Dem Vater und der Kirchengemeinde gegenüber verschloss sie sich aber immer mehr und mied auch Gespräche mit Freunden aus der Jugendgruppe, die es gut mit ihr meinten und helfen wollten.

Eines Tages lernte sie einen jungen Mann kennen, der – wie Johanna sarkastisch meinte – kein verkorkster Kirchgänger, sondern ein wahrer Lebenskünstler wäre. Sie verbrachte viel Zeit mit ihm, kam immer öfter erst spätnachts nach Hause und vernachlässigte ihr Studium mehr und mehr.

Obwohl der Vater seine kranke Frau nicht mit seinem Kummer belasten wollte, bemerkte sie die Veränderung ihrer Tochter. «Dieser Freund hat keinen guten Einfluss auf unsere Johanna!», sorgte sie sich.

Der Mann stützt seinen Kopf schwer in die Hände. Hätte er damals lieber schweigen sollen? Aber wer würde sein Kind nicht warnen wollen?

Lesen Sie die ganze Geschichte in ethos 12/2018.