«Der Preis, als Chefarzt verbrannt zu werden und Buhmann der Nation zu sein, hat mich schon beschämt.» So der Gynäkologe Thomas U. Börner im Gespräch mit ethos. Die konsequente Umsetzung seiner Überzeugung kostete ihn die Chefarzt-Stelle.
Daniela Wagner
2. Juli 2018

Herr Dr. Börner, weshalb haben Sie für sich die Entscheidung getroffen, als Gynäkologe keine Abtreibungen vorzunehmen?

Dr. Börner: Für mich war die Unantastbarkeit des Lebens schon immer wichtig. Rückblickend könnte eine Ursache darin liegen, dass meine Mutter und ich 1961 meine Geburt gerade so überlebt haben. Respekt für das von Gott geschenkte Leben, auch in der Natur, war mir also quasi angeboren. Das ist zugegebenermassen etwas spekulativ, aber der Mensch sucht immer gern nach Erklärungen ...

Meine erste Stelle als Assistenzarzt bekam ich am Knappschaftskrankenhaus Dortmund, also einem nicht konfessionellen Haus. Der Chefarzt dort hatte völlig selbstverständlich für sich und seine Abteilung Schwangerschaftsabbrüche untersagt. Das ging gegen sein Berufsethos. So bin ich in meinem Fach aufgewachsen, was meiner Einstellung sehr entgegenkam. Ich empfand es als das Normale. Von Anfang meiner Laufbahn an stand für mich ausser Frage, dass sich das Gebot «Du sollst nicht töten» auch auf das Leben im Mutterleib bezieht.

Ist es nicht «Ansichtssache», von welchem Zeitpunkt an man von einem Menschen spricht? Wer entscheidet, wo man die Grenze zieht?

Das ist eine schwierige Frage, weil sie sich streng naturwissenschaftlich nicht genau beantworten lässt. Allerdings finden wir Hinweise z. B. im deutschen Embryonenschutzgesetz: «§8 Begriffsbestimmung (1) Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung (Anm. d. Verf.: der Kerne der Eizelle u. des Spermiums) ...»

Aus biblischer Sicht – Psalm 139,13: «Denn du hast ... mich gebildet im Mutterleib» und Jeremia 1,5: «Ich kannte dich, ehe denn ich dich im Mutterleib bereitete ...» – ist meiner Ansicht nach nicht daran zu zweifeln, dass es sich um schützenswertes menschliches Leben handelt, auch wenn es noch im Körper der Mutter verborgen ist.

Wann allerdings genau der menschliche Embryo beseelt wird, darüber finden wir keine Information.

Sie führten 13 Jahre lang eine eigene Praxis und ermutigten manche ungewollt schwanger gewordene Frau, das Kind zu bekommen. Wie waren die Reaktionen?

In die gynäkologische Praxis kamen Frauen, die von mir eine Feststellung der Schwangerschaft und der Schwangerschaftswoche sowie die Überweisung zum Schwangerschaftsabbruch verlangten. Neben diesen gesetzlich vorgeschriebenen Massnahmen und dem Hinweis, dass sie eine Beratungsbescheinigung benötigen und sich um die Kostenregulierung kümmern müssen, ist es aber immer auch so, dass der Arzt oder die Ärztin als eine Art moralische Instanz wahrgenommen werden. Meine erste Reaktion auf das Ultraschallbild oder auf die Frage nach dem Abbruch spielte nach meiner Wahrnehmung eine grosse Rolle. Ob der Arzt Empathie für die Situation der Frau signalisiert, sich Zeit nimmt oder das als Routineeingriff abtut, der schnell zu erledigen sei – je nachdem kann die ganze Situation augenblicklich kippen, entweder zu vorsichtigem Optimismus bei der Frau oder zu einem innerlichen Zusammenbrechen, weil hier keine echte Hilfe zu erwarten ist.

Dabei habe ich stets zwischen zwei Fällen unterschieden: Einerseits diejenigen, die sich fest entschlossen gaben und nicht diskutieren wollten. In solchen Fällen respektierte ich die Entscheidung der Frau  und stellte ihr die Überweisung aus – wenn auch mit dem Gefühl des Bedauerns und mit besorgten Gedanken an ihr weiteres Leben. Andererseits gab es auch viele Frauen, vielleicht 50 %, die unentschlossen waren, sich von anderen gedrängt fühlten und im Grunde nach einer Möglichkeit suchten, ihr Kind auszutragen. Hier versuchte ich, zum Austragen zu ermutigen, ohne dabei die Probleme zu verniedlichen. Ich sagte ihnen ganz klar, dass es nicht einfach wird, sie ggf. Alleinerziehende werden – auch mit allen finanziellen Konsequenzen –, dass sie am Ende aber doch am besten dabei rauskämen, weil sie ihr Gewissen nicht belasten würden. Grob geschätzt haben sich  etwa 1/3 von diesen Unentschlossenen für das Kind entschieden, die anderen – manches Mal unter Tränen – dann doch nicht.

Diejenigen, die mir nachher ihr Kind gezeigt haben (darauf habe ich immer Wert gelegt), bereuten es nicht, sondern waren dankbar. Das waren natürlich sehr schöne Momente in meinem Berufsleben.

Um ungewollt schwangere Frauen zu unterstützen, gründeten Sie im Jahr 1997 den Verein «Hoffnung». Wie genau sieht die Hilfe aus?

Zu den Gründungsmitgliedern gehören meine Frau und ich, in erster Linie ging die Initiative allerdings von Esther Tepper, einer Hebamme, aus, die auch jetzt noch die 1. Vorsitzende ist. Wir sind ein Zusammenschluss von Mitgliedern aus verschiedenen Kirchen und verfolgen das Ziel, Frauen im Schwangerschaftskonflikt zu beraten und ihnen zu helfen. Dazu gehören z. B. Amtsgänge und Anträge, aber auch Bereitstellung von Wohnraum sowie Erstausstattungen aus unserer gut bestückten Kleiderkammer für Babys. Wir leben in erster Linie von Spenden, von denen auch drei Angestellte bezahlt werden. Einige Jahre lang kamen zusätzlich Einnahmen vom Jugendamt für die Bezahlung der Mitarbeiter der sozialpädagogischen Familienhilfe. Das Angebot wird gut angenommen und ist überregional bekannt.

Welches sind gemäss Ihrer Erfahrung als langjährig praktizierender Arzt die meistgenannten Gründe, weshalb Frauen eine Abtreibung wünschen?

  • Passt nicht wegen Berufsausbildung/Karriere.
  • Noch ein Kind schaffe ich finanziell nicht.
  • Ich bin zu jung/zu alt.
  • Mit dem Erzeuger möchte ich nicht zusammenleben.
  • Ich kann dem Kind nichts bieten.
  • Kurioseste Begründung: Ich habe einen grossen Garten mit Hunden und Pferden, da passt kein Kind mehr hin.

Bei Ihrem Amtsantritt als Chefarzt in der Capio-Elbe-Jeetzel-Klinik in Dannenberg war klar, dass es unter Ihrer Leitung keine Abtreibungen mehr geben wird, wenn keine medizinische Notwendigkeit vorliegt.

Von 2011 bis 2015 war ich zunächst als Honorararzt und später als angestellter Facharzt in der Klinik tätig. Zu dieser Zeit war ich zusammen mit der inzwischen pensionierten Oberärztin einer von zwei Ärzten, die in einem Team von fünf Ärzten keine Abbrüche vornahmen. Da aber der Chef und zwei weitere Kollegen den Eingriff anboten, gab es keine Proteste von aussen. 2016 ging der amtierende Chefarzt in Rente, und ich bewarb mich um seine Stelle. Mir war klar, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch kontrovers ist. Ich befürchtete auch, aufgrund meiner Einstellung den Posten nicht zu bekommen. Daher freute ich mich sehr, als der Geschäftsführer des Krankenhauses, Herr Dr. Fröhling, kein Problem darin sah, im Gegenteil meine Position sogar unterstützte. Zusätzlich sicherte ich mich ab, indem ich die umliegenden Praxen besuchte, die mir – bis auf eine – ihre Unterstützung zusagten. Auch in der Klinik gab es innerhalb des Pflegeteams sehr viele, die erleichtert waren, dass wir den Eingriff nicht mehr anboten.

Wie ist der Stein ins Rollen gekommen, der sie letztlich Ihre Stelle kostete?

Nachdem ich Anfang November 2016 meine Stelle angetreten hatte, bat die lokale Zeitung («Elbe-Jeetzel-Zeitung») Anfang Februar 2017 um ein Interview mit dem Krankenhaus-Geschäftsführer und mir. Ihnen war zu Ohren gekommen, dass eine Patientin mit dem Wunsch nach einem Abbruch abgelehnt worden war. Zwei Tage später erschien der Artikel, wiederum zwei Tage später war ich in sämtlichen Medien Deutschlands inkl. «BILD» und «Spiegel-online». Im Krankenhaus wurde ich ermutigt, aktiv auf Radio- und Fernseh-
interviews zuzugehen und meine Position zu vertreten. So wäre es besser, als wenn diese einfach irgendetwas berichteten.

Wie lauteten die Argumente, dass Sie für das Haus nun plötzlich nicht mehr tragbar seien? Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Wieder einen Tag später bekam ich einen Anruf aus der Konzernzentrale in Fulda. Der Vorwurf lautete, ich hätte dem Konzern einen massiven Imageschaden zugefügt und das operative Spektrum der Abteilung in unzulässiger Weise eingeschränkt. Unter diesen Voraussetzungen hätte ich nicht eingestellt werden dürfen.

Nicht vergessen darf man das Schicksal des Klinikgeschäftsführers Dr. Fröhling, dem man im Zuge dieser Ereignisse fristlos gekündigt hatte. Ihm wurde vorgeworfen, ohne Rücksprache mit der Konzernspitze meine Position unterstützt zu haben. Er gelangte ans Arbeitsgericht und bekam in erster Instanz Recht. Jedoch ging Capio in Revision.

Das Revisionsverfahren findet am 27.06.2018 vor dem Landgericht Hannover statt. Seit seiner Entlassung hat er nicht einen Euro Gehalt bekommen! Ich hoffe nun sehr, dass er auch dort gewinnt und nicht durch mich Schaden erleidet.

(Lesen Sie das ganze Interview in ethos 07/2018)