Wenn tanzende Hände Herzen auftun.
Daniela Wagner
12. Oktober 2016

Hans und Friedi Jutzi leiteten viele Jahre ein Gehörlosenheim und bauten in der Mongolei u. a. eine Schule für gehörlose Kinder auf. Beide (selbst hörend) treibt es, besonders am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen von der Liebe Gottes zu erzählen. Hans Jutzi hat als freischaffender Mitarbeiter der Hilfsorganisation «HMK Hilfe für Mensch und Kirche» (www.hmk-aem.ch) die letzten fünf Jahre die Gehörlosenarbeit auf Kuba mit aufgebaut und seinen grossen Erfahrungsschatz eingebracht.


Gehörlose sind von der Gesellschaft grösstenteils «Vergessene». Wie fiel Ihr Fokus auf sie?
Durch unsere Arbeit: Zwölf Jahre leiteten wir ein Gehörlosenheim in der Schweiz. In dieser Zeit wuchsen uns die am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen ans Herz. Dass unser ganzer Einsatz seither den Gehörlosen gilt, geht u. a. auf ein Erlebnis mit einem gehörlosen jungen Heimbewohner zurück. Eines Tages kehrte er nicht mehr zurück, wir suchten ihn zwei Tage lang. Schliesslich fand ihn die Polizei. Er war im Zug eingeschlafen. Der Waggon, in dem er sich befand, war abgestellt worden und zugesperrt. Als ich seinen Vater benachrichtigte, gab er mir den Auftrag: «Wenn du ihn bei der Polizei abholst, umarme ihn in meinem Namen.» Dies war wie ein göttlicher Auftrag: «Kümmere dich um die, die auf dem Abstellgeleise sind, die eingeschlossen, einsam, krank und traurig sind ... Bringe ihnen meine Liebe, indem du dich für sie verwendest, sie lieb hast und wertachtest, wie ich es tue. Erzähle ihnen, wie sie Gemeinschaft mit mir haben können.» Das hat uns seither geholfen, solche «Randleute» ernster zu nehmen. «Wer dem Hilflosen beisteht, der ehrt Gott» (Sprüche 14,31 b). Von den 10 000 Gehörlosen in der Schweiz hat es überdurchschnittlich viele in psychiatrischen Kliniken. Im Vergleich dazu: Blinde finden sich dort nur ganz wenige. Warum das? – Wenn ich reden kann und verstanden werde, gehöre ich dazu.

Als unsere drei Kinder erwachsen waren, wanderten wir in die Mongolei aus. Dort ist die Rate mit 3 % Gehörlosen hoch. Die Umstände, die wir vorfanden, waren gelinde gesagt widrig. Viele Gehörlose leben bei Temperaturen bis – 40 Grad auf den Müllhalden, weil sie kein Einkommen haben und somit auch keine Bleibe. So sammelten wir sie und bauten ein Obdachlosenheim. Es folgte der Bau eines Kinder­gartens und einer Schule für gehörlose Kinder. In der Mongolei gab es noch keine mongolische Gebärdensprache, und weil die vielen gehörlosen Kinder unterrichtet werden sollten, war dies zwingend notwendig. So begannen wir mit der Entwicklung einer Gebärdensprache, die auch den biblischen Wortschatz umfasst, und erzählten den Schützlingen von Jesus, seiner Liebe und dass er auch ihr Heiland sein möchte. Die Betreuer und Lehrer sind ausschliesslich Christen. Vor zehn Jahren starteten wir den Unterricht mit vier Kindern, heute sind es 620. Durch das Erlernen der Gehörlosensprache können sie zum ersten Mal mit ihrem Umfeld kommunizieren und so der sozialen Isolation entkommen. Zudem entstanden acht Gemeinden für Gehörlose. Da müssten Sie mal dabei sein, da steht der Himmel offen! 10 % der Mongolen sind Christen geworden – wie schön wäre es, eine solche Offenheit für die Frohe Botschaft auch in der Schweiz vorzufinden! Weiter kam der Bau einer Berufsschule hinzu, wo sechs verschiedene Berufslehren angeboten werden. Ich war daneben Leiter eines Landwirtschaftsbetriebes und begleitete Laien-Pastoren in Weiterbildungen und Seminaren.

Die finanziellen Mittel hatten wir nie im Voraus. Aber wir machten immer wieder die Erfahrung, dass Gott das, was er bestellt, auch bezahlt.

Sie haben die soziale Isolation gehör­loser Menschen angesprochen. Ist das im Grunde ihre Not?
Unserer Erfahrung nach: Ja. Viel Kommunikation im Alltag ist nicht hör­behindertengerecht. Zudem sieht man ihnen ihr Handicap nicht an, was zu Missverständnissen führt. Zum Beispiel spricht man die Person von hinten an, sie regiert nicht – Fazit: Dieser Mensch ist unhöflich, antwortet nicht. Hörende haben oft auch die Idee, man könne alles von den Lippen lesen, oder wenn Gehörlose reden, interpretieren Hörende die fremd anmutende Artikulation als limitiert in der Intelligenz, was natürlich nichts damit zu tun hat. Gehörlose nehmen Stimmungen sehr sensibel wahr und merken, wo sie auf Ablehnung stossen. Verletzt ziehen sie sich zurück oder verkehren nur unter ihresgleichen, weil man sich dort einfach versteht.

Eine Heimbewohnerin schrieb sich selbst Briefe, um die anderen Mitbewohner glauben zu lassen, sie habe viele Freunde, weil sie oft Post bekam. Tiefe Einsamkeit spricht aus solchen Handlungen.

Oft fühlen sie sich einfach nicht als Teil dieser hörenden Gesellschaft. Wir wünschen uns – gerade von Christen –, dass sie die stummen Schreie dieser am Rande der Gesellschaft Stehenden hören. Wenn Jesu Liebe in unsere Herzen ausgegossen ist, sollte es uns ein Anliegen sein, ihnen von der Liebe Gottes zu erzählen und diese Liebe auch zu leben. «Wer seine Ohren verstopft vor dem Schreien des Armen, der wird einst auch rufen und nicht erhört werden» (Spr. 21,13).

Wie gross ist die Anzahl gehörloser Menschen weltweit? Gibt es grosse Schwankungen?
Durchschnittlich sind 1,5 % der Weltbevölkerung oder 70 Millionen gehörlos. In der Mongolei sind es wie gesagt mehr, mit 3 % machen sie eine vergleichsweise grosse Gruppe aus.

In der Schweiz werden immer weniger Kinder mit einer Hörbehinderung geboren. Der Grund: Sie werden meist abgetrieben. Früh lässt sich eine solche Fehlbildung feststellen, da die Bildung des Gehörs in der vorgeburtlichen Anfangszeit passiert. Viele Heime und Schulen sind aus diesem traurigen Anlass verschwunden ...

«Jede Gesellschaft misst sich am schwächsten Glied! Jede Kette ist nur so stark wie das schwächste Glied.» (Peter Hemmi, gehörlos)

(Interviewauszug aus ethos 10/2016)