Geben wir es ehrlich zu. Es ist viel einfacher zu erzählen, wie wir von anderen Menschen verletzt wurden, als davon, wie wir andere verletzt haben. Der Drang, unsere Seite einer Geschichte zu erzählen, sitzt tief. Was wir anderen angetan haben – ihre Seite der Geschichte – ist uns manchmal nicht einmal bewusst. Opfer sein war schon immer einfacher als Täter sein. Es fängt schon in unserer Wortwahl an. Ausreden für mich, empörtes Schimpfen für den anderen. Gnade für mich, Gericht für den anderen. Wenn ich aufbrause, liegt es an meiner Leidenschaft für die rechte Sache. Wenn der andere aufbraust, ist er verletzend, er soll sich bitteschön besser im Griff haben. Wenn ich andere Menschen herumkommandiere, liegt es an meinen herausragenden Führungskompetenzen. Der aber, der mich herumkommandiert, ist herrisch und missbraucht seine Macht. Wenn ich ein Auge zudrücke, ist es, weil ich ein Brückenbauer, ein Friedensstifter bin. Der andere, der ein Auge zudrückt, ist feige und macht faule Kompromisse.
Kein Kind muss lernen, wie es geht
In unzähligen kleinen Reibereien des Alltags wird dieses Phänomen sichtbar. Jonas zieht sich aus Beziehungen zurück, beschuldigt aber die anderen, dass sie sich nicht um ihn kümmern. Nadine läuft demonstrativ an Simone vorbei, ohne sie zu begrüssen, beklagt sich aber, dass Simone sie nicht beachtet. Verena besteht darauf, die Küche alleine zu putzen, klagt jedoch nachher lautstark, dass alle sie im Stich gelassen haben. Heimo will seine vom Heiligen Geist inspirierte Idee für das Gemeindefest durchsetzen. Das Leitungsteam lehnt die Idee ab. Heimo klagt über Lieblosigkeit und mangelndes Hören auf Gott. Verletzen, verletzt werden, wieder verletzen – so ziehen die Spannungen ihre unerbittlichen Zerstörungszüge durch Familien, Gemeinschaften, Betriebe. Opfer und Täter überschneiden sich, und immer ist der andere schuld.
Die empörten Stimmen von Adam und Eva im Garten Eden klingen nach. «Wie denn? Ich? Ich soll etwas falsch gemacht haben? Wie kommt man auf so einen Gedanken?» «Die Frau, die du mir gabst ...», «Die Schlange hat mich getäuscht ...» (1. Mose 3,12–13). Es ist das Kernwesen der Trennung von Gott: beleidigt sein, die Unwilligkeit, Verantwortung für mein Leben auf mich zu nehmen und mich der Notwendigkeit von Gottes eingreifender Gnade zu stellen. Wenn es einen handfesten Beweis für die Wahrnehmungsstörungen gibt, die Sünde hinterlassen hat, dann finden wir ihn genau an dieser Stelle. Auch der höchste IQ ist keine Garantie für die Klugheit, die dazu- gehört, das eigene Fehlverhalten kritisch zu reflektieren. Intelligente Menschen fallen schneller auf die Masche herein als einfachere. Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es lustig. Gehört doch eine gehörige Portion Kreativität zur Kunst, eine Geschichte so hinzubiegen, dass ich in einem guten und der andere in einem schlechten Licht dasteht.
(Artikelauszug aus ethos 6/2017)