Es gibt wohl kein Spannungsfeld im Leben, das uns so viel Kraft kostet wie unsere Beziehungen.
Nicola Vollkommer
30. August 2025

«Ist meine Zuwendung überhaupt erwünscht?»

«Warum geht die Initiative immer nur von mir aus?» 

«Habe ich etwas falsch gemacht?»

«Langsam komme ich mir dabei blöd vor. Aber wenn ich keine Initiative ergreife, dann bin ich auch der Buhmann.» 

Beziehungen richtig zu führen, kann ein mühsames Unterfangen sein. Sei es in der Familie, in der Gemeinde, am Arbeitsplatz oder in der Verwandtschaft – wie gehe ich mit Enttäuschungen und Verletzungen um? Wann mache ich Kompromisse, kämpfe um eine Beziehung und wann nicht? Wann sage ich «bis hierher und nicht weiter»? Woher weiss ich, ob das Problem bei mir liegt oder bei den anderen?

Biblische Liebe – ein Freibrief für Missbrauch?

«Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie neidet nicht, die Liebe tut nicht gross, sie bläht sich nicht auf, sie benimmt sich nicht unanständig. Sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit; sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles ...» (1. Kor. 13,4–7). 

Wem wird bei Paulus’ Loblied auf die Liebe nicht warm ums Herz? Jawohl! Genau so wollen wir von anderen behandelt werden! Der Haken: Die Worte sind an mich gerichtet. Diese Passage ist eine der anspruchsvollsten in der ganzen Bibel. Wer ist schon in der Lage, auch nur annähernd ein so hohes Benimm-Niveau zu erreichen? Dem Hass mit Liebe begegnen? Die berühmte Extrameile gehen? Nicht verletzt zu sein, wenn meine Mühen undankbar ignoriert werden? Der Einzige, der sich so verhalten kann, ist Jesus. Aber ich bin nicht Jesus.

Paulus fordert uns nicht auf, uns im Auftrag unserer Heiligung zu Märtyrern des gut gemeinten Altruismus zu machen. Wenn Christus in uns lebt und wir sein Wort lieben und beachten, dann werden wir die Weisheit haben, richtig zu unterscheiden, wann wir um der Nächstenliebe willen Unrecht ertragen müssen, und wann wir – ebenfalls um der Nächstenliebe willen – Grenzen ziehen müssen.

Paulus schreibt den Korinthern eine Grundhaltung vor, die sie mit Gottes Hilfe einüben sollen. Wohlwollend, gütig, barmherzig, grosszügig sollen sie sein, nicht permanent eingeschnappt oder gekränkt, gnädig in ihren Urteilen – bejahend, ermutigend, aber gleichzeitig wahrhaftig und ehrlich, immer auf das Wohl des anderen bedacht. Wer lernt, so zu denken und zu fühlen, vermeidet viele unnötige Beziehungsabbrüche.

Saatgut, das Wirkung zeigt

König David ist einer, der so gelebt hat. Er ist ein Multitalent, nicht nur militärischer Stratege und politischer Führer der ersten Liga, sondern auch Musiker und Dichter. Was ihn aber am meisten auszeichnet, ist seine Liebe zu den Menschen. «Aber ganz Israel und Juda hatten David lieb», heisst es in 1. Samuel 18,16, «denn er zog aus und ein vor ihnen her.» Diese Nächstenliebe blieb trotz vieler Verfehlungen in seinem Leben bis an sein Lebensende sein Markenzeichen. Als Zielscheibe der grundlosen Feindschaft von König Saul, weigert er sich, zurückzuschlagen und die Königsherrschaft an sich zu reissen. Er lädt den gehbehinderten Mefiboset zu seiner Königstafel mit den Worten: «Gibt es vielleicht noch jemand, der vom Haus Sauls übrig geblieben ist, damit ich Gnade an ihm erweise Jonatans wegen?» (2. Sam. 9,1). 

Nach dem massiven moralischen Absturz, den er durch den Ehebruch mit Batseba und dessen weitreichende Folgen erlebt, bereut er dies zutiefst und ist um Wiedergutmachung bemüht (Ps. 51, 2. Sam. 24). Trotz vieler Enttäuschungen und Rückschläge bleibt er bis an sein Lebensende bemüht, seinen Mitmenschen Gutes zu tun, unabhängig davon, ob es ihm selbst etwas bringt oder nicht.

Ein Weg durch das Minenfeld

Das soll auch unsere Grundhaltung sein. Wir lieben, weil wir geliebt sind. Weil Christus uns innewohnt. Weil wir nicht anders können als zu lieben, denn Gottes Geist prägt unser Verhalten. Trotzdem hat auch der liebevollste Christ nur eine begrenzte Kapazität. Unsere Zeit, Energie und Kraft sind nicht grenzenlos. Wir können nicht allen alles sein. Eine Beziehungswelt muss gestaltet werden, Prioritäten müssen gesetzt werden. Wir haben nur so viel seelische Kapazität und müssen mit ihr haushalten, damit wir nicht ausbrennen und zu nichts mehr zu gebrauchen sind. 

Was tun, wenn Beziehungen belastend werden? Wenn die Freundin, der du normalerweise alles erzählen konntest, dir immer öfter eine schroffe Abfuhr erteilt? Auf deine Nachrichten an dein Kind bekommst du keine Antwort? Dein bester Freund lädt alle anderen zu seinem Geburtstagsumtrunk ein und lässt dich eiskalt abblitzen? 

«Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein!» (Matth. 18,15). In Gottes Welt ist der Plan A immer die Versöhnung und nicht, in einem Streit die Oberhand zu gewinnen. Wir sollen alles daransetzen, das, was entfremdet ist, wenn irgendwie möglich zurückzugewinnen. Die «Überführung» «zwischen dir und ihm allein» kann Verschiedenes bedeuten und gilt für alle Arten von Spannungen.

«Du, ich habe das Gefühl, dass du mir in letzter Zeit aus dem Weg gehst. Ist was zwischen uns? Habe ich dich irgendwie verletzt? Oder bilde ich mir das nur ein?»

«Ich habe mitbekommen, dass du Negatives über mich verbreitest, und das belastet mich. Können wir darüber reden? Habe ich da vielleicht was missverstanden?»

«Dein Kommentar gestern ... wie genau hast du das gemeint? Gibt es etwas, wofür ich mich entschuldigen muss?»

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 05/2025